Sonntag, 30. Dezember 2012

„Wenn ich ihn drei Tage nicht gesehen hatte, so kannte ich ihn nicht mehr; so riesenhaft waren die Fortschritte, die er in seiner Vervollkommnung machte.“

Samstag, 29. Dezember 2012

und Gott, welch ein Gespräch,
Wenn dir eine Ratte durch den Kopf läuft, daß du einen Morgen nichts reden magst oder bei Tische das Maul hängst, sag ich da was drüber?
Man konnte zwar dem jungen Mann eine Achtung nicht versagen, eine Teilnahme, die mich denn auch auf einen so wunderlichen Weg geführt hatte: Denn ein ernstliches Wollen sprach sich aus, ein edler Sinn und Zweck; aber obschon von den zärtlichsten Gefühlen die Rede war, blieb der Vortrag ohne Anmut, und eine ganz eigens beschränkte Selbstigkeit tat sich kräftig hervor. Als er nun geendet hatte, fragte er mit Hast, was ich dazu sage? Und ob ein solches Schreiben nicht eine Antwort verdient, ja gefordert hätte?
Indessen war mir der bedauernswürdige Zustand dieses jungen Mannes immer deutlicher geworden: Er hatte nämlich von der Außenwelt niemals Kenntnis genommen, dagegen sich durch Lektüre mannigfaltig ausgebildet, alle seine Kraft und Neigung aber nach innen gewendet und sich auf diese Weise, da er in der Tiefe seines Lebens kein produktives Talent fand, so gut als zugrunde gerichtet; wie ihm denn sogar Unterhaltung und Trost, dergleichen uns aus der Beschäftigung mit alten Sprachen so herrlich zu gewinnen offen steht, völlig abzugehen schien.


Sonntag, 23. Dezember 2012

Und so bleiben Sie mir, wie ich gewiss auch durch alles Schweben und Schwirren durch unveränderlich bleibe. Recht wohl –! diese Kusshand – Leben Sie recht wohl.

Freitag, 21. Dezember 2012

... und wäre ihm von der Natur nur etwas mehr Herzenssagazität gegönnt gewesen, so konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass der vor ihm stehende Gast sich ...
Den wenigen da postierten Kriegsleuten wird auf alle Weise zugesetzt, mit Geschütz von den Soldaten, mit Steinen und Kot durch Trossbuben. Mitten in diesem Unheil spricht der Graf von Soissons zum Ritter Joinville scherzend: „Seneschall, lasst das Hundepack bellen und blöken; bei Gottesthron!“ (so pflegte er zu schwören) „von diesem Tag sprechen wir noch im Zimmer vor den Damen.“
Die Wirtstafel, an der man übrigens ganz wohl versorgt war, gab auch ein Sinne verwirrendes Schauspiel: Militärs und Angestellte, allerart Uniform, Farben und Trachten, im stillen missmutig, auch wohl in Äußerungen heftig, aber alle wie in einer gemeinsamen Hölle zusammengefasst.
Und so begegnete denn auch mir, dass ich an großer Tafel neben einem alten trefflichen General saß und vom Vergangenen zu sprechen mich nicht ganz enthielt, worauf er mir, zwar freundlich, aber mit gewisser Bestimmtheit antwortete: „Erzeigen Sie mir morgen früh die Ehre, mich zu besuchen, da wir uns hierüber freundlich und aufrichtig besprechen wollen.“ Ich schien es anzunehmen, blieb aber aus und gelobte mir innerlich, das gewohnte Stillschweigen so bald nicht wieder zu brechen.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Das Selbst- und Geschichtsbewusstsein der „neuen Epoche der Weltgeschichte“, so die Lebenserfahrung des politischen Zeitgenossen Goethe, wurde widerspiegelt in Fausts Wette. Goethe erkannte in ihr die Signatur des anbrechenden Zeitalters der Revolution und ihres charakteristischen Prozessdenkens, das jede Gegenwart im Vertrauen auf das Versprechen einer leuchtenden, besseren Zukunft negierte. Fortan verwandelte Goethe seinen kritischen Blick auf das einmal in Fahrt gekommene europäische Revolutionsgeschehen ins dramatische Bild einer Tragödie, die vom Fluch auf die Geduld und das Verweilen angetrieben wird.  
Es ist im Grunde auch alles Torheit, ob einer etwas aus sich habe, oder ob er es von andern habe; ob einer durch sich wirke, oder ob er durch andere wirke; die Hauptsache ist, dass man ein grosses Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig.
„Aber Sie haben ganz recht, der eigentliche Glanzpunkt seiner Taten fällt in die Zeit seiner Jugend. – Und es wollte etwas heißen, daß einer aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Kapazitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem siebenundzwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu sein! – Ja, ja, mein Guter, man muß jung sein, um große Dinge zu tun. Und Napoleon ist nicht der einzige!“

„Sein Bruder Lucian“, bemerkte ich, „war auch schon früh sehr hohen Dingen gewachsen. Wir sehen ihn als Präsidenten der Fünfhundert und darauf als Minister des Innern im kaum vollendeten fünfundzwanzigsten Jahre.“

„Was wollen Sie mit Lucian?“ fiel Goethe ein. – „Die Geschichte bietet uns der tüchtigsten Leute zu Hunderten, die sowohl im Kabinett als im Felde im noch jugendlichen Alter den bedeutendsten Dingen mit großem Ruhme vorstanden.“


„Wäre ich ein Fürst,“ fuhr er lebhaft fort, „so würde ich zu meinen ersten Stellen nie Leute nehmen, die bloß durch Geburt und Anciennität nach und nach heraufgekommen sind und nun in ihrem Alter im gewohnten Gleise langsam gemächlich fortgehen, wobei denn freilich nicht viel Gescheites zutage kommt. – Junge Männer wollte ich haben, aber es müßten Kapazitäten sein, mit Klarheit und Energie ausgerüstet, und dabei vom besten Wollen und edelsten Charakter. – Da wäre es eine Lust zu herrschen und sein Volk vorwärts zu bringen! – Aber wo ist ein Fürst, dem es so wohl würde und der so gut bedient wäre!“ –
„Große Hoffnung setze ich auf den jetzigen Kronprinzen von Preußen. – Nach allem, was ich von ihm kenne und höre, ist er ein sehr bedeutender Mensch; und das gehört dazu, um wieder tüchtige und talentvolle Leute zu erkennen und zu wählen. Denn man sage was man will, das Gleiche kann nur vom Gleichen erkannt werden, und nur ein Fürst, der selber große Fähigkeiten besitzt, wird wiederum große Fähigkeiten in seinen Untertanen und Dienern gehörig erkennen und schätzen. „Dem Talente offene Bahn!“ war der bekannte Spruch Napoleons, der freilich in der Wahl seiner Leute einen ganz besonderen Takt hatte, der jede bedeutende Kraft an die Stelle zu setzen wußte, wo sie in ihrer eigentlichen Sphäre erschien, und der daher auch in seinem Leben bei allen großen Unternehmungen bedient war, wie kaum ein anderer.“
Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu sein; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht. – Merkwürdig war es mir, daß er, der selbst in so hohen Jahren noch einem bedeutenden Posten vorstand, so ganz entschieden der Jugend das Wort redete und die ersten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jünglingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter besetzt haben wollte.

Mittwoch, 28. November 2012

Ich sah ein Pferd, das sich in seinen eigenen, aus dem verwundeten Leibe heraus gefallenen Eingeweiden mit den Vorderfüßen verfangen hatte und so unselig dahinhinkte.

Mittwoch, 21. November 2012

Allem Guten befohlen,
Kennst du das herrliche Gift der unbefriedigten Liebe?
Es versengt und erquickt, zehret am Mark und erneuts.

Sie entzückt mich, und täuschet vielleicht. O Dichter und Sänger,
Mimen! lerntet ihr doch meiner Geliebten was ab!

"Wir stehen hier", erwidert Goethe, "eben vor einem Geheimnis ...." 
Heute war bei Tisch von den Frauen die Rede, und Goethe äußerte sich darüber sehr schön. Die Frauen, sagte er, sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden, Gott weiß wie. Meine dargestellten Frauencharaktere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.

Donnerstag, 15. November 2012

Damit du aber wissest, wie dein Freund auf einem luftigen Schloß, von wo er ein hübsches Thal mit flachen Wiesen, steigenden Äckern und einer bis an die unzugänglichen steilen Waldränder sich erstreckenden Vegetation übersieht, wie er daselbst diese langen Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zubringt, will ich dir vertrauen: daß ich schon seit einiger Zeit vom Auslande her die Naturwissenschaften wieder aufzunehmen angeregt bin. Das liebe Deutschland hat etwas ganz eigentlich Wunderliches in seiner Art; ich habe redlich aufgepaßt, ob bey denen nun seit drey Jahren eingeleiteten und durchgeführten naturwissenschaftlichen Zusammenkünften mich auch nur etwas berühre, anrühre, anrege, mich, der ich seit funfzig Jahren leidenschaftlich den Naturbetrachtungen ergeben bin; es ist mir aber, außer gewissen Einzelheiten, die mir aber eigentlich doch auch nur Kenntniß gaben, nichts zu Theil geworden, keine neue Forderung ist an mich gelangt, keine neue Gabe ward mir angeboten; ich mußte daher die Interessen zum Capital schlagen und will nun sehen, wie das Summa Summarum im Auslande fruchtet. Verschweige das löblich, denn ich erinnere mich so eben daß bey euch die Wissenschaft sich abermals in großer Breite versammelt.

Samstag, 3. November 2012

Engel! Ihr Brief hat mir wie der in die Ohren geklungen wie die Trompete dem eingeschlafnen Krieger.
„Schweigen wir von diesen Dingen! Jene Zeit liegt nur gar zu weit hinter mir, und schon damals, als ich meine edlen Gäste mit scheinbarer Heiterkeit unterhielt, nagte mir der Wurm am Herzen, ich sah die Folgen voraus dessen, was in meinem Vaterland vorging. Ich bewunderte Ihre Sorglosigkeit, in der Sie auch die Ihnen bevorstehende Gefahr nicht ahnten; ich bereitete mich im stillen zur Veränderung meines Zustandes. Bald nachher musst’ ich meinen ehrenvollen Posten und das werte Venedig verlassen und eine Irrfahrt antreten, die mich endlich auch hierher geführet hat.“
Schon alle diese letzten traurigen Tage her suche ich nach Worten, Ew. Königlichen Hoheit auch aus der Ferne schuldigst aufzuwarten, wo aber sollte der Ausdruck zu finden seyn, die vielfachen Schmerzen zu bezeichnen die mich beängstigen? und wie soll ich wagen, den Antheil auszusprechen zu dem die gegenwärtige Lage Ew. Königlichen Hoheit mich auffordert?
Möge deshalb die treuste Versicherung eines ewig verehrend gewidmeten Angehörens für den Augenblick einigermaßen genügen, ein Versäumniß zu entschuldigen dem ich bisher abzuhelfen vergebens bemüht war.
Auch gegenwärtigem Blatte gnädigst-nachsichtige Aufnahme bescheidentlichst erbittend und zu ferneren Hulden und Gnaden andringlichst mich empfehlend.

Im Zwiegespräch mit seinem Vater, das er da ins Lateinische überträgt, fragt der Vater nach dem Grundstein des Hauses, der bei dem Umbau 1755 bis 1756 im Keller eingemauert wurde: "Was denckestu den nun gutes bey diesem Stein, nach dem dich so sehr verlanget?" Der Filius antwortet: "Ich gedencke und wünsche daß er nicht eher als mit dem Ende der Welt verrucket werden möge."
Bald setzte ein entdecktes großes Verbrechen, dessen Untersuchung und Bestrafung die Stadt auf viele Wochen in Unruhe.

Montag, 29. Oktober 2012

Wir erfahren erst im Alter, was uns in der Jugend begegnete.
Und euch betauen, ach!
Aus diesen Augen
Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen.

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Noch immer auf der Wooge mit meinem kleinen Kahn, und wenn die Sterne sich verstecken schweb ich so in der Hand des Schicksaals hin und Muth und Hoffnung und Furcht und Ruh wechseln in meiner Brust. Seit ich die Krafft der Worte στηϑος und πραπιδες fühle, ist mir in mir selbst eine neue Welt aufgegangen. Armer Mensch an dem der Kopf alles ist! Ich wohne ietzt in Pindar, und wenn die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müsst ich's seyn.
Wenn er die Pfeile ein übern andern nach dem Wolkenziel schiest steh ich freylich noch da und gaffe; doch fühl ich indess, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian rühmt, und was tätiges an mir ist lebt auf da ich Adel fühle und Zweck kenne. Ειδως φυα, ψεφηνος ανηρ, μυριαν αρεταν ατελει νοω γευεται, ουποτ ατρεκει κατεβα ποδι, μαϑοντες pp. Diese Worte sind mir wie Schwerdter durch die Seele gangen. Ihr wisst nun wie's mit mir aussieht, und was mir euer Brief in diesem Philocktetschen Zustande worden ist.
Seit ich nichts von euch gehört habe, sind die Griechen mein einzig Studium. Zuerst schränckt ich mich auf den Homer ein, dann um den Sokrates forscht ich in Xenophon und Plato, da gingen mir die Augen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich was an Pindarn wo ich noch hänge. Sonst hab ich gar nichts getahn, und es geht bey mir noch alles entsetzlich durch einander. Auch hat mir endlich der gute Geist den Grund meines spechtischen Wesens entdeckt. Über den Worten Pindars επικρατειν δυνασϑαι ist mirs aufgegangen.
Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Krafft lenckst, den austretenden herbey, den aufbäumenden hinabpeitschest, und iagst und lenckst und wendest, peitschest, hältst, und wieder ausjagst biss alle sechzehn Füsse in einem Tackt ans ziel tragen. Das ist Meisterschafft, επικρατειν, Virtuosität. Wenn ich nun aber überall herumspaziert binn, überall nur drein geguckt habe. Nirgends zugegriffen. Dreingreiffen, packen ist das Wesen ieder meisterschafft.
Dieses ist das Bild der Welt,
Die mann für die beste hält;
Fast, wie eine Mördergrube,
Fast, wie eines Burschen Stube,

Fast so, wie ein Opernhauß,
Fast, wie ein Magisterschmauß,
Fast, wie Köpfe von Poeten,
Fast, wie schöne Raritäten,
Fast, wie abgeseztes Geld,
Sieht sie aus die beste Welt.


Samstag, 20. Oktober 2012

Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, dass man ihr's versagte; denn am Ende des Lebens gehen dem gefassten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.
Man sagt sich oft im Leben, dass man die Vielgeschäftigkeit, Polypragmosyne, vermeiden, besonders, je älter man wird, sich desto weniger in ein neues Geschäft einlassen solle. Aber man hat gut reden, gut sich und anderen raten. Älter werden heisst selbst ein neues Geschäft antreten; alle Verhältnisse verändern sich, und man muss entweder zu handeln ganz aufhören oder mit Willen und Bewusstsein das neue Rollenfach übernehmen.
Jedem Tier und jedem Narren haben die Götter seine Verteidigungswaffen gegeben.
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen.
Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, gross und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und hässlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier durch seine Kunsttriebe scheidet, verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden und nur das Mass von Gutem zu geniessen; bis es ihm endlich gelingt, die Zirkulation aller seiner wahr' und gemachten Bedürfnisse in einen Palast einzuschliessen, sofern es möglich ist, alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit in seine gläserne Mauern zu bannen, wo er denn immer weicher und weicher wird, den Freuden des Körpers Freuden der Seele substituiert und seine Kräfte, von keiner Widerwärtigkeit zum Naturgebrauche aufgespannt, in Tugend, Wohltätigkeit, Empfindsamkeit zerfliessen.  

Montag, 15. Oktober 2012

Es habe schon damals eine gewaltige Furcht vor dem Zustande nach dem Tode in den Köpfen der Menschen gespukt, ähnlich dem Fegfeuer-Glauben bigotter Katholiken; Lucrez sei dadurch ergrimmt, in das Extrem verfallen, von dieser Furcht durch seine Vernichtungslehre mit einem Male heilen zu wollen. Man spüre durch das ganze Lehrgedicht einen finstern, ingrimmischen Geist wandeln, der sich durchaus über die Erbärmlichkeit seiner Zeitgenossen erheben wolle. So sei es immer gewesen, auch bei Spinoza und andern Ketzern. Wären die Menschen en masse nicht so erbärmlich, so hätten die Philosophen nicht nöthig, im Gegensatz so absurd zu sein! Lucrez komme ihm in seinen abstrusen Lehrsätzen immer wie Friedrich II. vor, als dieser in der Schlacht von Collin seinen Grenadieren, die eine Batterie zu attaquiren zauderten, zurief: Ihr Hunde, wollt Ihr denn ewig leben?
Ich pries den Zufall, der ihn zum Briefwechsel über diese Vorrede verleitet habe. Da antwortete er: »was thut man denn Bedeutendes, ohne durch einzelnen Anlass aufgeregt zu sein? Die Gelegenheiten sind die wahren Musen, sie rütteln uns auf aus Träumereien und man muss es ihnen durchaus danken. Knebel hatte leider keine Collectionen über Lucrez, keine Acten, darum werde es ihm schwer, jetzt productiv und positiv zu sein. Da habe ich ganz anders gesammelt, Stösse von Excerpten und Notizen über jeden Lieblingsgegenstand.« 
Wie sehr es mich ergötzt, daß dir mein Liedchen gefallen hat, glaubst du nicht, wie sehr es mich freut, einen Laut hervorzubringen, der in deine Stimmung trifft. Eben das wünscht' ich »Egmonten«, von dem du so wenig sagst und eher, daß dir daran etwas weh als wohl tut. O, wir wissen genug, daß wir eine so große Komposition schwer ganz rein stimmen können, es hat doch im Grunde niemand einen rechten Begriff von der Schwierigkeit der Kunst als der Künstler selbst.
Und ein Gewebe, sollt es ewig sein?
Zerstört's die Magd nicht, reisst die Spinn es selber ein.


Samstag, 13. Oktober 2012


Lass mich ein Gleichnis brauchen. Wenn du eine glühende Masse Eisen auf dem Herde siehst, so denkst du nicht, dass so viel Schlacken drinstecken, als sich erst offenbaren, wenn es unter den großen Hammer kommt. Dann scheidet sich der Unrat, den das Feuer selbst nicht absonderte, und fließt und stiebt in glühenden Tropfen und Funken davon, und das gediegene Erz bleibt dem Arbeiter in der Zange. Es scheint, als wenn es so eines gewaltigen Hammers bedurft habe, um meine Natur von den vielen Schlacken zu befreien und mein Herz gediegen zu machen. Und wieviel Unrat weiß sich auch noch da zu verstecken.

Unsere Neigungen? Was wir tun sollen in Absicht auf sie? Narren sind sie, diese unreifen Bewegungen unseres Herzens. Und Sie wissen ja, was geschieht, wenn man sich von solchen Compagnons bei der Nase herumführen lässt.
Um die Welt recht zu betrachten, muss man sie weder zu schlimm noch zu gut halten. Liebe und Hass sind gar nahe verwandt und beide machen uns trüb sehen.

Die wenigsten Menschen lieben an dem anderen das, was er ist; nur das, was sie ihm leihen. Ihre Vorstellung von ihm lieben sie. Und so hol sie der Teufel.

Lieben und Hassen, Hoffen und Fürchten sind auch nur beschränkte Zustände unseres trüben Inneren, durch welches der Geist entweder nach der Licht- oder Schattenseite hinblickt. Blicken wir durch die trübe organische Umgebung nach dem Lichte hin, so lieben und hoffen wir. Blicken wir nach dem Finsteren, so hassen und fürchten wir. Beide Seiten haben ihr Anziehendes und Reizendes. Für manche Menschen sogar die traurige mehr als die heitere.

Donnerstag, 11. Oktober 2012

"Unter Liebenden", versetzte Goethe, "ist diese magnetische Kraft besonders stark und wirkt sogar sehr in die Ferne. Ich habe in meinen Jünglingsjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam. 'Es wurde mir in meinem Stübchen unruhig', sagte sie, 'ich konnte mir nicht helfen, ich musste hierher.'" 

Samstag, 6. Oktober 2012

Ferne sei es von uns, den übelgedachten und übelgeschriebenen Text, den wir vor uns haben, zu kommentieren; nicht ohne Unwillen werden unsre Leser jene Blätter am angezeigten Orte durchlaufen und die ungebildete Anmassung, womit man sich in einen Kreis von Bessern zu drängen, ja Bessere zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen denkt, diesen eigentlichen Sansculottismus zu beurteilen und zu bestrafen wissen. Nur weniges werde dieser rohen Zudringlichkeit entgegengestellt.  
Es ist doch gewiss, das in der Welt den Menschen nichts notwendiger macht als die Liebe. 

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Aber dergleichen liegt sehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüssel haben. Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wissen, was sich alles in ihr regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung steht. ... Wie gesagt, wir tappen alle in Geheimnissen und Wundern. Auch kann eine Seele auf die andere durch blosse stille Gegenwart entschieden einwirken ....
Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabeler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.
Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muss, die nicht so zur Erscheinung kommen, wie sie sollten.

Sonntag, 30. September 2012

Und im ganzen genommen, was tuts! Man muss oft etwas Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeitlang leben zu können. In meiner Jugend habe ich es nicht besser gemacht, und doch bin ich noch ziemlich mit heiler Haut davongekommen.

Mittwoch, 26. September 2012

es ist oft doch nur ein Moment der entscheidet 
die Zeit, sie mäht so Rosen und Dornen,
aber das treibt immer wieder von vornen


Mittwoch, 19. September 2012

Erfahren, schauen, beobachten, betrachten, verknüpfen, entdecken, erfinden sind Geistestätigkeiten, welche tausendfältig, einzeln und zusammengenommen, von mehr oder weniger begabten Menschen ausgeübt werden. Bemerken, sondern, zählen, messen, wägen sind gleichfalls große Hülfsmittel, durch welche der Mensch die Natur umfaßt und über sie Herr zu werden sucht, damit er zuletzt alles zu seinem Nutzen verwende. Von diesen genannten sämtlichen Wirksamkeiten und vielen andern verschwisterten hat die gütige Mutter niemanden ausgeschlossen. Ein Kind, ein Idiot macht wohl eine Bemerkung, die dem Gewandtesten entgeht, und eignet sich von dem großen Gemeingut, heiter unbewußt, sein beschieden Teil zu.
Auch in diesen unsern Blättern konnte Widerspruch und Widerstreit, ja sogar heftiger, nicht vermieden werden. Weil ich aber für mich und andere einen freiern Spielraum, als man uns bisher gegönnt, zu erringen wünsche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keinesweges verargen, wenn wir dasjenige, was unsern rechtmäßigen Forderungen entgegen steht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so vielen Jahren herkömmlich gegen uns verübte. Damit aber desto schneller alle widerwärtige Geistesaufregung verklinge, so geht unser Vorschlag zur Güte dahin, daß doch ein jeder, er sei auch wer er wolle, seine Befugnis prüfen und sich fragen möge: was leistest du denn eigentlich an deiner Stelle und wozu bist du berufen? Wir tun es jeden Tag, und diese Hefte sind die Bekenntnisse darüber, die wir so klar und rein, als der Gegenstand und die Kräfte es erlauben, ungestört fortzusetzen gedenken.




Donnerstag, 13. September 2012

Vollkommenheit ist schon da, wenn das Notwendigste geleistet wird, Schönheit, wenn das Notwendige geleistet, doch verborgen ist.
Es ist schwer, gegen den Augenblick gerecht sein: Der gleichgültige macht uns Langeweile, am guten hat man zu tragen und am bösen zu schleppen.
Mit diesem Aufschlußgeben wäre die ganze Herrlichkeit des Dichters dahin. Der Dichter soll doch nicht sein eigener Erklärer sein und seine Dichtung in alltägliche Prosa sein zerlegen; damit würde er aufhören Dichter zu sein. Der Dichter stellt seine Schöpfung in die Welt hinaus; es ist die Sache des Lesers, des Ästhetikers, des Kritikers, zu untersuchen, was er mit seiner Schöpfung gewollt hat.
Wenn sich der Mensch in Umständen befindet, die zu dem Raume, den sein Geist einnehmen sollte, in keinem Verhältnisse stehen, wenn er eingeengt, umwunden und verstrickt ist und er lange dagegen gearbeitet hat, gewöhnt er sich endlich zu einer dunkeln, gutmütigen Geduld und folgt gelassen den trüben Pfaden seines Schicksales. Wenn dann manchmal ein Blitz aus einer höheren Sphäre ihn umleuchtet, schaut er freudig auf, die Seele erhebt sich, er fühlt sich wieder, doch bald, von der Schwere seines Zustandes niedergezogen, gibt er das geahndete Glück mit gelindem Murren wieder auf und überläßt sich nach geringem Widerstreben der Gewalt, die den Stärkern wie den Schwachen dahinreißt.  

Dienstag, 11. September 2012

Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.


Mittwoch, 5. September 2012


Schon in Leipzig begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen und sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort von einem Extrem in das andere warf.


»Was ich getan, ihr Lumpenhunde, werdet ihr nimmermehr erfahren!«


Geht nur und lasst mir das Publikum, von dem ich nichts hören mag. Die Hauptsache ist, dass es geschrieben steht. Mag nun die Welt damit gebaren so gut sie kann und es benutzen, soweit sie es fähig ist. Denn man kann von dem Publikum nicht verlangen, dass es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle. Meine Sachen können nicht populär werden. Wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.

Grausam erweiset sich Amor an mir! O spielet, ihr Musen,
Mit den Schmerzen, die er spielend im Busen erregt!
»Ich verlebe hier,« sagte Goethe, »so gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege im offenen Fenster, um mich an der Pracht der jetzt zusammenstehenden drei Planeten zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenröthe zu erquicken. Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freien und halte geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken sagen und wovon ich euch wunderliche Dinge mittheilen könnte. Auch mache ich wieder Gedichte, die nicht schlecht sind, und möchte überall, daß es mir vergönnt wäre, in diesem Zustande so fortzuleben.« 

Montag, 27. August 2012


Wahrlich, das kurze Leben, es wäre dem Menschen zu gönnen, dass er es froh verbrächte.

Jeder prüfe sich und er wird finden, dass dies viel schwerer sei als man denken möchte; denn leider sind dem Menschen Worte gewöhnlich Surrogate; er denkt und weiss es meist besser, als er sich ausspricht.

Samstag, 25. August 2012

Bedenkt man nun, dass ein solcher Zustand, wo man sich, die Angst zu übertäuben, jeder Vernichtung aussetzte, bei drei Wochen dauerte, so wird man uns verzeihen, wenn wir über diese schrecklichen Tage wie über einen glühenden Boden hinüberzueilen trachten.
Die schönen Frauen jung und alt,
Sind nicht gemacht, sich abzuhärmen;
Und sind einmal die edlen Helden kalt,
So kann man sich an Schluckern wärmen.

Dass Glück ihm günstig sei,
Was hilfts dem Stöffel?
Denn regnets Brei,
Fehlt ihm der Löffel,

Auch das schöne Kind näherte sich mir und sagte das Verbindlichste. Ich antwortete, dass ich nichts als meine Schuldigkeit getan und die Sicherheit und Heiligkeit dieses Platzes behauptet hätte; ich gab einen Wink, und sie zogen fort.
Lebst im Volke; sei gewohnt,
Keiner je des andern schont.

Dienstag, 14. August 2012


A king there once was reigning,
Who cherished a great big flea;
No little love attaining,
As his own son loved he.
He called his tailor hireling,
The tailor to him flew:
"Ho, measure now the squireling
For coat and breeches too."
In silk and velvet splendid
He now was always dressed,
By ribbons gay attended,
A cross upon his breast.
Was minister created,
A mighty star did sport;
Then all his kin, elated,
Became great lords at court.
Lord, lady, and dependent
Were plagued and sore distressed;
The queen and her attendant
Were bitten by the pest.
And yet they dared not whack them
Nor scratch by day or night.
We smother and we crack them
Whenever we feel them bite.

Chorus (shouting)
We smother and we crack them
Whenever we feel them bite.

"Sein eigener Geist sei mit ihm und lasse ihn glücklich sein: ohne Gott, ohne Freund und ohne Tugend."
Ein Pamphlet der Gegner führte den Titel: "An die Sudelköche in Weimar".
Als Ulrike Levetzow einmal gefragt wurde, warum sie sich nicht verehelicht habe, gab sie zur Antwort: "Nach Goethe erschienen mir alle anderen Männer langweilig."

Sonntag, 5. August 2012


Wer ist das würdigste Glied des Staats? Ein wackerer Bürger;
Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff.

Wie beklag' ich es tief, dass diese herrliche Seele,
Wert, mit zum Zwecke zu gehn, mich nur als Mittel begreift!

Dienstag, 24. Juli 2012

Einen jedoch muss ich besonders auszeichnen, einen ernsten, sehr achtbaren Mann von der Art, wie sie zu jener Zeit unter den preußischen Kriegsleuten öfter vorkamen, mehr ästhetisch als philosophisch gebildet, ernst mit einem gewissen hypochondrischen Zug, still in sich gekehrt und zum Wohltun mit zarter Leidenschaft aufgelegt.
Denn es ging mir mit diesen Entwickelungen natürlicher Phänomene wie mit Gedichten: Ich machte sie nicht, sondern sie machten mich. Das einmal erregte Interesse behauptete sein Recht, die Produktion ging ihren Gang, ohne sich durch Kanonenkugeln und Feuerballen im mindesten stören zu lassen. Der Fürst verlangte, dass ich ihm fasslich machen sollte, wie ich in dieses Feld geraten. Hier gereichte mir nun der heutige Fall zu besonderem Nutzen und Frommen.
Dergleichen Betrachtungen anzustellen, versammelte sich eine große Gesellschaft, die überhaupt, wo es Halt gab, sich immer mit einigem Zutrauen, besonders beim Nachmittagskaffee, zusammenfügte; sie bestand aus wunderlichen Elemente, Deutschen und Franzosen, Kriegern und Diplomaten, alles bedeutende Personen, erfahren, klug, geistreich, aufgeregt durch die Wichtigkeit des Augenblicks, Männer, sämtlich von Wert und Würde, aber doch eigentlich nicht in den innern Rat gezogen und also desto mehr bemüht, auszusinnen, was beschlossen sein, was geschehen könnte.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Goethe äusserte, er habe nie auf Despoten schimpfen hören, als die selbst Despoten gewesen wären.
Er sagte weiter: „Die Weiber müssten nur lieben oder hassen; da wären sie ganz scharmant. Die Männer aber müssten weder lieben noch hassen. So käme alles wieder ins Gleichgewicht.“
„Die Irrtümer des Menschen machen ihn eigentlich liebenswürdig.“
Zincgref, Apophthegmen: Gott definiert er also, dass er sei ein unaussprechlich Seufzen, im Grund der Seelen gelegen.
O wie oft hab’ ich an dieses Blatt gedacht, und wie er damit mir die Stirne und das Gesicht streichelte, und wie er meine Haare durch die Finger zog und sagte: „Ich bin nicht klug; man kann mich leicht betrügen, du hast keine Ehre davon, wenn du mir etwas weismachst mit deiner Liebe.“ - Da fiel ich ihm um den Hals.

Die Formel der Steigerung lässt sich auch im Ästhetischen und Moralischen anwenden. Die Liebe, wie sie modern erscheint, ist ein Gesteigertes. Es ist nicht mehr das erste einfache Naturbedürfnis und Naturäusserung, sondern ein in sich kohobiertes, gleichsam verdichtetes und gesteigertes Wesen. Es ist einfältig, diese Art zu verwerfen, weil sie auch noch einfach existiert und existieren kann.
Wenn man in Küche und Keller ein Gesteigertes sucht und darauf ausgeht, warum soll man nicht auch diesen Genuss für die Darstellung oder für das unmittelbare Empfinden steigern dürfen und können?
Jeder Koch macht auf diese Weise seine Brühen und Saucen appetitlicher, dass er sie in sich kohobiert.
Wenn ein Weib einmal vom rechten Wege ab ist, dann geht es auch blind und rücksichtslos auf dem bösen fort; und der Mann ist nichts dagegen, wenn er auf bösen Wegen wandelt. Denn er hat immer noch eine Art von Gewissen. Bei ihr aber wirkt dann die blosse Natur.

Dienstag, 17. Juli 2012

Die Leser seien ihm die liebsten, die sich ganz und gar in einem Buche verlieren können.
56. Welchen Leser ich wünsche? Den unbefangensten, der mich,
Sich und die Welt vergisst und in dem Buche nur lebt.

Freitag, 13. Juli 2012

»Wir Frauen sind nun einmal so, lieber Vater,« sagte Frau von Goethe, indem sie über den Tisch neigend ihm die Hand drückte. – »Man muß euch schon in euerer Liebenswürdigkeit gewähren lassen,« erwiederte Goethe. 
»Man will,« sagte Herr von Martius, »auf dem Ararat ein Stück von der Arche Noah's versteinert gefunden haben, und es sollte mich wundern, wenn man nicht auch die versteinerten Schädel der ersten Menschen finden sollte.« 
»Dieser Meinung,« sagte Goethe, »muß ich widersprechen. Ich behaupte vielmehr, daß die Natur sich immer reichlich, ja verschwenderisch erweise, und daß es weit mehr in ihrem Sinne sei, anzunehmen, sie habe statt eines einzigen armseligen Paares die Menschen gleich zu Dutzenden, ja zu Hunderten hervorgehen lassen. Als nämlich die Erde bis zu einem gewissen Punkt der Reise gediehen war, die Wasser sich verlaufen hatten und das Trockene genugsam grünte, trat die Epoche der Menschwerdung ein, und es entstanden die Menschen durch die Allmacht Gottes überall, wo der Boden es zuließ, und vielleicht auf den Höhen zuerst. Anzunehmen, daß dieses geschehen, halte ich für vernünftig, allein darüber nachzusinnen, wie es geschehen, halte ich für ein unnützes Geschäft, das wir denen überlassen wollen, die sich gern mit unauflößbaren Problemen beschäftigen und die nichts Besseres zu thun haben.«
»Ich kann es dem Guten nicht verargen,« sagte Goethe, »daß er von Italien mit solcher Begeisterung redet; weiß ich doch, wie mir selber zu Muthe gewesen ist! Ja ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei. Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen; ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wieder froh geworden.«

Donnerstag, 5. Juli 2012

Heute bei Tische war die heiterste Gesellschaft. 
»Ich begreife Euch nicht, Ihr guten Kinder,« sagte er, »wie ihr Sujet und Musik trennen und jedes für sich genießen könnt. Ihr sagt, das Sujet tauge nicht, aber Ihr hättet es ignorirt und Euch an der trefflichen Musik erfreut. Ich bewundere wirklich die Einrichtung euerer Natur, und wie euere Ohren im Stande sind, anmuthigen Tönen zu lauschen, während der gewaltigste Sinn, das Auge, von den absurdesten Gegenständen geplagt wird.«

Mittwoch, 27. Juni 2012


Der Philister negiert nicht nur die anderen Zustände, als der seinige ist, er will auch, dass alle übrigen Menschen auf seine Weise existieren sollen. ....
Es ist der blindeste Egoismus, der von sich selbst nichts weiss, und nicht weiss, dass der der andern ebensoviel Recht hätte, den seinigen auszuschliessen, als der seinige hat, den andern. 

Häufig ist er bei Anna Amalia, die er im Tagebuch mit dem Mondsymbol umschreibt (zunehmender Mond oder abnehmender Mond), am gleichen oder nächsten Tag dann auch bei Frau von Stein, seiner Sonne (Sonne). Die Balance zwischen den beiden Frauen wird mit geradezu zwanghafter Akribie gewahrt.

Zunehmender Mond: eine Sichel, offen gegen links. Sonne: ein Kreis mit einem Punkt.

Samstag, 16. Juni 2012

Wie wollt ich du könntest nur acht Tage mein Herz an deinem, meinen Blick in deinem fühlen. Bey Gott was hier vorgeht ist unaussprechlich fein und schnell und nur dir vernehmbar.
Ich sagte immer in meiner Jugend zu mir da so viel tausend Empfindungen das schwankende Ding bestürmen: Was das Schicksal mit mir will, dass es mich durch all die Schulen gehen lässt, es hat gewiß vor mich dahin zu stellen wo mich die gewöhnlichen Qualen der Menschheit gar nicht mehr anfechten müssen. Und iezt noch ich seh alles an Vorbereitung an!  

Samstag, 9. Juni 2012

Er hat viel geredet und immer als ob’s halb im Scherz wäre, aber im bittern Scherz herrliche Sachen gesagt über Kunst, Epigramme, Elegisches, Improvisiren, Liebe als Mittel zum Zweck, über Hoffnung, die in ihm erstorben ist ... ich ergrimmte über sein Wegwerfen der Erinnerung, „die Gegenwart ist die einzige Göttin, die ich anbete,“ sagte er - über seinen Unglauben an intellektuelle Freundschaft. „Freundschaft werde durch Verhältnisse genährt“ ...

Freitag, 8. Juni 2012


GRAF. Erkläre dich näher.

RITTER. Du weißt besser als ich selbst, was ich zu sagen habe. In jedes gute Herz ist das edle Gefühl von der Natur gelegt, daß es für sich allein nicht glücklich sein kann, daß es sein Glück in dem Wohl der andern suchen muß. Dieses schöne Gefühl weißt du in den Schülern des ersten Grades zu erregen, zu stärken, zu beleben! – Und wie nötig ist es, uns zum Guten Mut zu machen! Unser Herz, das von Kindheit an nur in der Geselligkeit sein Glück findet, das sich so gern hingibt und nur dann am höchsten und reinsten genießt, wenn es sich für einen geliebten Gegenstand aufopfern kann – ach! dieses Herz wird leider durch den Sturm der Welt aus seinen liebsten Träumen gerissen! Was wir geben können, will niemand nehmen; wo wir zu wirken streben, will niemand helfen; wir suchen und versuchen und finden uns bald in der Einsamkeit.

GRAF nach einer Pause. Weiter, mein Sohn.
RITTER. Und was noch schlimmer ist, mutlos und klein. Wer beschreibt die Schmerzen eines verkannten, von allen Seiten zurückgestoßenen menschenfreundlichen Herzens? Wer drückt die langen, langsamen Qualen eines Gemüts aus, das, zu wohltätiger Teilnehmung geboren, ungern seine Wünsche und Hoffnungen aufgibt und sich doch zuletzt derselben auf ewig entäußern muß? Glücklich, wenn es ihm noch möglich wird, eine Gattin, einen Freund zu finden, denen er das einzeln schenken kann, was dem ganzen Menschengeschlechte zugedacht war; wenn er Kindern, wenn er – Tieren nützlich und wohltätig sein kann! 

Freitag, 25. Mai 2012

Goethe zeigte mir einen eleganten grünen Lehnstuhl, den er dieser Tage in einer Auktion sich hatte kaufen lassen.
»Ich werde ihn jedoch wenig oder gar nicht gebrauchen,« sagte er, »denn alle Arten von Bequemlichkeit sind eigentlich ganz gegen meine Natur. Sie sehen in meinem Zimmer kein Sofa; ich sitze immer in meinem alten hölzernen Stuhl und habe erst seit einigen Wochen eine Art von Lehne für den Kopf anfügen lassen. Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Meublen hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen passiven Zustand. Ausgenommen, daß man von Jugend auf daran gewöhnt sei, sind prächtige Zimmer und elegantes Hausgeräte etwas für Leute, die keine Gedanken haben und haben mögen.«
 

„Ich habe ein gutes Wort gefunden,“ fuhr Goethe fort, um diese Herren zu ärgern. Ich will ihre Poesie die Lazarett-Poesie nennen; dagegen die echt Tyrtäische diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder singt, sondern auch den Menschen mit Mut ausrüstet, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.“
Man spricht immer viel von Aristokratie und Demokratie, die Sache ist ganz einfach diese: In der Jugend, wo wir nichts besitzen oder doch den ruhigen Besitz nicht zu schätzen wissen, sind wir Demokraten. Sind wir aber in einem langen Leben zu Eigentum gekommen, so wünschen wir dieses nicht allein gesichert, sondern wir wünschen auch, daß unsere Kinder und Enkel das Erworbene ruhig genießen mögen. Deshalb sind wir im Alter immer Aristokraten ohne Ausnahme, wenn wir auch in der Jugend uns zu anderen Gesinnungen hinneigten. Leo spricht über diesen Punkt mit großem Geiste.

Sonntag, 20. Mai 2012

Noch immer auf der Woge mit meinem kleinen Kahn, und wenn die Sterne sich verstecken, schweb' ich so in der Hand des Schicksals hin, und Muth und Hoffnung und Furcht und Ruh wechseln in meiner Brust.
Erlaubt uns in unsern vermischten Schriften doch neben den abend- und nordländischen Formen auch die morgen- und südländischen.

Dienstag, 15. Mai 2012

»Doch wir wollen uns nicht melancholischen Betrachtungen hingeben,« fuhr Goethe nach einer Pause fort.

Sonntag, 6. Mai 2012


An den Geist des Johannes Sekundus.

Lieber, heiliger, groser Küsser,
Der du mir's in lechzend athmender
Glückseeligteit fast vorgethan hast!
Wem soll ich's klagen? klagt ich dir's nicht!
Dir, dessen Lieder wie ein warmes Küssen
Heilender Kräuter mir unters Herz sich legten,
Dass es wieder aus dem krampfigen Starren
Erdetreibens klopfend sich erhohlte.
Ach wie klag ich dir's, dass meine Lippe blutet,
Mir gespalten ist, und erbärmlich schmerzet,
Meine Lippe, die soviel gewohnt ist
Von der Liebe süsstem Glück zu schwellen
Und, wie eine goldne Himmelspforte,
Lallende Seeligkeit aus und einzustammeln.
Gesprungen ist sie! Nicht vom Biss der Holden,
Die, in voller ringsumfangender Liebe,
Mehr mögt haben von mir, und mögte mich Ganzen
Ganz erküssen, und fressen, und was sie könnte!
Nicht gesprungen weil nach ihrem Hauche
Meine Lippen unheilige Lüfte entweihten.
Ach gesprungen weil mich, öden, kalten,
Über beizenden Reif, der Herbstwind anpackt.
Und da ist Traubensaft, und der Saft der Bienen,
An meines Heerdes treuem Feuer vereinigt,
Der soll mir helfen! Warrlich er hilft nicht
Denn von der Liebe alles heilendem
Gift Balsam ist kein Tröpfgen drunter

d. 2. Nov. 76.             G.

Sonntag, 29. April 2012

Man sagt wohl zum Lobe des Künstlers: Er hat alles aus sich selbst. Wenn ich das nur nicht wieder hören müsste! Genau besehen, sind die Produktionen eines solchen Originalgenies meistens Reminiszenzen; wer Erfahrung hat, wird sie meist einzeln nachweisen können.

Dienstag, 24. April 2012

Lasst uns doch vielseitig sein! Märkische Rübchen schmecken gut, am besten gemischt mit Kastanien. Und diese beiden edlen Früchte wachsen weit auseinander.

Samstag, 14. April 2012

"Wir wollen erwarten", sagte Goethe, "was uns die Götter Weiteres bringen. Es lässt sich in solchen Dingen nichts beschleunigen."
Es liegt in solchen sinnlichen Dingen mehr, als man denkt, und man muss dem Geistigen mit allerlei Künsten zu Hülfe kommen.

Dienstag, 10. April 2012

"Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei", sagte Goethe, "und besonders nicht, dass er alleine arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll. ..." 

Samstag, 7. April 2012

"Die Anlage, das Höhere aufzunehmen", sagte Goethe, "ist sehr selten, und man tut daher im gewöhnlichen Leben immer wohl, solche Dinge für sich zu behalten und davon nur so viel hervorzukehren, als nötig ist, um gegen die andern in einiger Avantage zu sein."

Dienstag, 27. März 2012

"Wenn man alt ist", sagte er, "denkt man über die weltlichen Dinge anders, als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, dass jeder nach ihnen strebt, und so gross, dass niemand sie erreicht. So stellten sie den Raffael hin ... So stellten sie den Mozart hin... Und so in der Poesie Shakespeare."

Samstag, 24. März 2012

"Man hat zu allen gesagt und wiederholt", fuhr Goethe fort, "man solle trachten, sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genüget hat und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit allem seinem Sinnen und Trachten aufs Aeussere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiss er bloss, wenn er geniesst oder leidet, und so wird er auch bloss durch Leiden und Freuden über sich belehrt, was er zu suchen und zu meiden hat. Uebrigens aber ist der Mensch ein dunkles Wesen, er weiss nicht woher er kommt noch wohin er geht, er weiss wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten. ... "

Samstag, 10. März 2012

Was man Motive nennt, sind also eigentlich Phänomene des Menschengeistes, die sich wiederholt haben und wiederholen werden, und die der Dichter nur als historische nachweist.
„Wenn einer singen lernen will,“ fuhr Goethe fort, „sind ihm alle diejenigen Töne, die in seiner Kehle liegen, natürlich und leicht: die andern aber, die nicht in seiner Kehle liegen, sind ihm anfänglich äußerst schwer. Um aber ein Sänger zu werden, muß er sie überwinden, denn sie müssen ihm alle zu Gebote stehen. Ebenso ist es mit einem Dichter. Solange er bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet. Und dann ist er unerschöpflich und kann immer neu sein, wogegen aber eine subjektive Natur ihr bißchen Inneres bald ausgesprochen hat und zuletzt in Manier zugrunde geht.“
Diese Tage scheinen also uns beiden nicht die günstigsten gewesen zu sein, denn seit ich von Ihnen weg bin hat mich der böse Engel der Empirie anhaltend mit Fäusten geschlagen. Doch habe ich, ihm zu Trutz und Schmach, ein Schema aufgestellt worin ich jene Naturwirkungen, die sich auf eine Dualität zu beziehen scheinen, parallelisire und zwar in folgender Ordnung:

Magnetische,
elektrische,
galvanische,
chromatische und
sonore.

Sonntag, 26. Februar 2012

Am 17. Mai traf ich Sulpice Boisserée bei Goethe, dessen Besuch ihn sehr erfreute.

Ottilie konnte sich noch nicht sehen lassen, ein unglücklicher Fall hatte ihr Gesicht getroffen, und Goethe hatte sich bis jetzt selbst noch immer gescheut, ihr entstelltes Antlitz zu sehen; »Denn,« sagte er, »ich werde solche häßliche Eindrücke nicht wieder los, sie verderben mir für immer die Erinnerung.
Ich bin hinsichtlich meines sinnlichen Auffassungsvermögens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schärfste und bestimmteste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und Mängel mich aufs lebhafteste afficirt finde. Der schönste kostbarste Kupferstich, wenn er einen Flecken oder Bruch bekommt, ist mir sofort unleidlich. Wie könnte ich mich aber über diese oft freilich peinliche Eigenthümlichkeit ärgern, da sie mit andern erfreulichen Eigenschaften meiner Natur innigst zusammenhängt? Denn ohne jenes scharfe Auffassungs-und Eindrucksvermögen könnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisirt hervorbringen. Diese Leichtigkeit und Präcision der Auffassung hat mich früher lange Jahre hindurch zu dem Wahne verführt, ich hätte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen; erst spät gewahrte ich, daß es mir an dem Vermögen fehlte, in gleichem Grade die empfangenen Eindrücke nach außen wiederzugeben.«

Goethe sagte zu Ottilie, als sie meinte, Schiller langweile sie oft: »Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn.«
»Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupte mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie solange, als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer bunt gemalten Scheibe dachte, welcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope. Ich erinnere mich nicht, inwiefern bei dieser regelmäßigen Bewegung eine Zahl zu bemerken gewesen, vermutlich aber bezog sie sich auf den Acht-Strahl, denn nicht weniger Blätter hatten die oben gemeldeten Blumen. Mit andern Gegenständen fiel mir nicht ein, den Versuch zu machen; warum aber diese bereitwillig von selbst hervortraten, mochte darin liegen, daß die vieljährige Betrachtung der Pflanzenmetamorphose, sowie nachheriges Studium der gemalten Scheiben, mich mit diesen Gegenständen ganz durchdrungen hatte; und hier tritt hervor, was Herr Purkinje so bedeutend anregt. Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eignen Lebendigkeit des Organs mit vollkommener Freiheit ohne Vorsatz und Leitung.«
Wolf berichtet von den Stadtneuigkeiten, von dem Großvater, der sich wieder einmal mit Tante Ulrike gezankt habe. Er ging nach Art desselben langsam, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper etwas geneigt, den Kopf gehoben, die weit offenen Augen auf uns gerichtet, im Zimmer auf und nieder; dabei sagte er mit grollender Stimme: »Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen! ihr treibt's mir bald zu arg.« Ich mußte lachen, ermahnte aber doch meinen jungen Freund, des Großvaters nicht etwa zu spotten.

Dienstag, 14. Februar 2012

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getötet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. „Mich wundert“, sagte Goethe, „daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.“ Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. Ich begreife nicht, sagte der Kanzler, wie fürstliche Personen solche Tiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können. „Fürstliche Personen“, sagte Goethe, „werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigeren Tiere als Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Tiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind. Wären wir aber in dem Fall, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht, etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerem zu vertreiben.“
„Hierbei“, sagte ich, „fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:

Wollen die Menschen Bestien sein,
So bringt nur Tiere zur Stube herein,
Das Widerwärtige wird sich mindern;
Wir sind eben alle von Adams Kindern.

Goethe lachte. „Ja“, sagte er, „es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist.“
Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine Weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend und wir sprachen im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gerne jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.

Dienstag, 24. Januar 2012

An Carl Friedrich Zelter
Dornburg den 10. Juli 1828.
Bey dem schmerzlichsten Zustand des Innern mußte ich wenigstens meine äußern Sinne schonen und ich begab mich nach Dornburg, um jenen düstern Functionen zu entgehen, wodurch man, wie billig und schicklich, der Menge symbolisch darstellt was sie im Augenblick verloren hat und was sie dießmal gewiß auch in jedem Sinne mitempfindet.
Ich weiß nicht ob Dornburg dir bekannt ist; es ist ein Städchen auf der Höhe im Saalthale unter Jena, vor welchem eine Reihe von Schlössern und Schlößchen gerade am Absturz des Kalkflötzgebirges zu den verschiedensten Zeiten erbaut ist; anmuthige Gärten ziehen sich an Lusthäusern her; ich bewohne das alte neuaufgeputzte Schlößchen am südlichsten Ende. Die Aussicht ist herrlich und fröhlich, die Blumen blühen in den wohlunterhaltenen Gärten, die Traubengeländer sind reichlich behangen, und unter meinem Fenster seh ich einen wohlgediehenen Weinberg, den der Verblichene auf dem ödesten Abhang noch vor drey Jahren anlegen ließ und an dessen Ergrünung er sich die letzten Pfingsttage noch zu erfreuen die Lust hatte. Von den andern Seiten sind die Rosenlauben bis zum Feenhaften geschmückt und die Malven und was nicht alles blühend und bunt, und mir erscheint das alles in erhöhteren Farben wie der Regenbogen auf schwarz-grauem Grunde.
Seit funfzig Jahren hab ich an dieser Stätte mich mehrmals mit ihm des Lebens gefreut und ich könnte dießmal an keinem Orte verweilen, wo seine Thätigkeit auffallender anmuthig vor die Sinne tritt. Das Ältere erhalten und aufgeschmückt, das Neuerworbene (eben das Schlößchen, das ich bewohne, ehemals ein Privat-Eigenthum) mäßig und schicklich eingerichtet, durch anmuthige Berggänge und Terrassen mit den frühern Schloßgärten verbunden, für eine zahlreiche Hofhaltung, wenn sie keine übertriebene Forderungen macht, geräumig und genügend, und was der Gärtner ohne Pedanterie und Ängstlichkeit zu leisten verpflichtet ist, alles vollkommen, Anlage wie Flor.

Freitag, 20. Januar 2012

Und wie es ist wird es bestehen, da die jüngere Herrschaft das Gefühl des Guten und Schicklichen dieser Zustände gleichfalls in sich trägt und es mehrere Jahre bey längerem und kürzerem Aufenthalt bewährt hat. Dieß ist denn doch auch ein angenehmes Gefühl, daß ein Scheidender den Hinterbliebenen irgend einen Faden in die Hand gibt woran ferner fortzuschreiten wär.
Und so will ich denn an diesem mir verliehenen Symbol halten und verweilen.
Damit du aber wissest, wie dein Freund auf einem luftigen Schloß, von wo er ein hübsches Thal mit flachen Wiesen, steigenden Äckern und einer bis an die unzugänglichen steilen Waldränder sich erstreckenden Vegetation übersieht, wie er daselbst diese langen Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zubringt, will ich dir vertrauen: daß ich schon seit einiger Zeit vom Auslande her die Naturwissenschaften wieder aufzunehmen angeregt bin. Das liebe Deutschland hat etwas ganz eigentlich Wunderliches in seiner Art; ich habe redlich aufgepaßt, ob bey denen nun seit drey Jahren eingeleiteten und durchgeführten naturwissenschaftlichen Zusammenkünften mich auch nur etwas berühre, anrühre, anrege, mich, der ich seit funfzig Jahren leidenschaftlich den Naturbetrachtungen ergeben bin; es ist mir aber, außer gewissen Einzelheiten, die mir aber eigentlich doch auch nur Kenntniß gaben, nichts zu Theil geworden, keine neue Forderung ist an mich gelangt, keine neue Gabe ward mir angeboten; ich mußte daher die Interessen zum Capital schlagen und will nun sehen, wie das Summa Summarum im Auslande fruchtet. Verschweige das löblich, denn ich erinnere mich so eben daß bey euch die Wissenschaft sich abermals in großer Breite versammelt.