Dienstag, 22. Juli 2008

Riemer kam späterhin zu uns. Ich erzählte, Schmidt sei von Madame Milder höchst eingenommen, sie übersteige alles, was seine Phantasie sich von einer vollkommenen Sängerin gedacht.
»Ganz natürlich«, sagte Goethe; »denn die Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, neblicht, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie. Aber niemals in der characteristischen Vollständigkeit der Wirklichkeit. Es erregt mir daher immer Schmerz, wenn man ein wirkliches Kunst- oder Naturgebilde mit der Vorstellung vergleicht, die man sich davon gemacht hatte, und dadurch sich den reinen Genuß des erstern verkümmert. Vermag doch unsere Einbildungskraft nicht einmal das Bild eines wirklich gesehenen, schönen Gegenstandes getreu wiederzugeben; immer wird die Vorstellung etwas Neblichtes, Verschwimmendes enthalten.«
Auf meine Klage, daß diese Beschränkung unsrer Natur uns so viel Herrliches entziehe, erwiderte er: »Ei, das ist ja ein Glück, was würden wir anfangen, wenn alle die unzähligen Empfindungen, die uns z.B. ein Hummel'sches Spiel giebt, uns fortwährend blieben? dann würden ja auch die vergangenen Schmerzen immerfort uns peinigen. Seien wir froh, daß für das Gute, Angenehme doch immer noch ziemlich viele Reproductionskraft in uns wohnt.«