Sonntag, 19. April 2009

Es ist aber der kindisch egoistische Widerspruchsgeist im Menschen, dass er gegen sich selbst zerstörend verfährt, nur um ein anderes nicht über sich zu leiden. Lobt man ein Bestimmtes, so weiss er gleich noch ein anderes darüber aufzustellen, um jenes zu vernichten; tadelt man etwas, so steigt er gleich einige Stufen tiefer, um zu zeigen, dass es noch vieles unter jenem gebe, und so dies zu entschuldigen, ja zu erheben.
„Man erschrickt,“ sagte Goethe, „wenn man diese Bilderchen durchsieht! Da wird man erst gewahr, wie unendlich reich und groß Shakespeare ist! Da ist doch kein Motiv des Menschenlebens, das er nicht dargestellt und ausgesprochen hätte! Und alles mit welcher Leichtigkeit und Freiheit!“
Das Gespräch wendete sich auf Byron, und zwar wie er gegen Shakespeares unschuldige Heiterkeit im Nachteil stehe, und wie er durch sein vielfältig negatives Wirken sich so häufigen und meistenteils nicht ungerechten Tadel zugezogen habe. „Hätte Byron Gelegenheit gehabt,“ sagte Goethe, „sich alles dessen, was von Opposition in ihm war, durch wiederholte derbe Äußerungen im Parlament zu entledigen, so würde er als Poet weit reiner dastehen. So aber, da er im Parlament kaum zum Reden gekommen ist, hat er alles, was er gegen seine Nation auf dem Herzen hatte, bei sich behalten, und es ist ihm, um sich davon zu befreien, kein anderes Mittel geblieben, als es poetisch zu verarbeiten und auszusprechen. Einen großen Teil der negativen Wirkungen Byrons möchte ich daher verhaltene Parlamentsreden nennen, und ich glaube sie dadurch nicht unpassend bezeichnet zu haben.“
Es kam darauf einer unserer neuesten deutschen Dichter zur Erwähnung, der sich in kurzer Zeit einen bedeutenden Namen gemacht, dessen negative Richtung jedoch gleichfalls nicht gebilligt wurde.
„Es ist nicht zu leugnen,“ sagte Goethe, „er besitzt manche glänzende Eigenschaften; allein ihm fehlt – die Liebe. – Er liebt so wenig seine Leser und seine Mitpoeten als sich selber, und so kommt man in den Fall, auch auf ihn den Spruch des Apostels anzuwenden: „Und wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.“ Noch in diesen Tagen habe ich Gedichte von Platen gelesen und sein reiches Talent nicht verkennen können. Allein, wie gesagt, die Liebe fehlt ihm, und so wird er auch nie so wirken, als er hätte
müssen. Man wird ihn fürchten, und er wird der Gott derer sein, die gern wie er negativ wären, aber nicht wie er das Talent haben.“
Der Freiheitssinn und die Vaterlandsliebe, die man aus den Alten zu schöpfen meint, wird in den meisten Leuten zur Fratze. Was dort aus dem ganzen Zustand der Nation, ihrer Jugend, ihrer Lage zu andern, ihrer Cultur hervorging, wird bei uns eine ungeschickte Nachahmung. Unser Leben führt uns nicht zur Absonderung und Trennung von andern Völkern, vielmehr zu dem größten Verkehr; unsere bürgerliche Existenz ist nicht die der Alten; wir leben auf der einen Seite viel freier, ungebundener und nicht so einseitig beschränkt als die Alten, auf der andern ohne solche Ansprüche des Staats an uns, daß wir eifersüchtig auf seine Belohnung zu sein Ursache und deswegen einen Patricieradel zu souteniren hätten. Der ganze Gang unserer Cultur, der christlichen Religion selbst führt uns zur Mittheilung, Gemeinmachung, Unterwürfigkeit und zu allen gesellschaftlichen Tugenden, wo man nachgiebt, gefällig ist, selbst mit Aufopferung der Gefühle und Empfindungen, ja Rechte, die man im rohen Naturzustande haben kann. Sich den Obern zu widersetzen, einem Sieger störrig und widerspenstig zu begegnen, darum weil uns Griechisch und Lateinisch im Leibe steckt, er aber von diesen Dingen wenig oder nichts versteht, ist kindisch und abgeschmackt. Das ist Professorstolz, wie es Handwerksstolz, Bauernstolz und dergleichen giebt, der seinen Inhaber ebenso lächerlich macht, als er ihm schadet.
In Bezug auf Werke guter Schriftsteller: Wenn der Bäcker wüsste oder bedächte, was für ein Lumpenpack sein Brot ässe, er würde lieber keines backen.
»Das wird freilich eine große Operation sein, aber was der Historiker nach solcher Plage für Wahrheit hält, ist immer nur für ihn, ist nur subjective [93] Wahrheit; unbestreitbare, objective Wahrheit ist es nicht.«
Fichte beantwortete die Frage des Pilatus: was ist Wahrheit? – einmal mit folgenden Worten: Wahrheit ist, was nothwendig so gedacht werden muß, wie es gedacht ist, was schlechthin nicht anders gedacht werden kann.
»Nämlich von Fichte oder von mir. Also hat ein jeder seine eigene Wahrheit. Die mathematische Wahrheit aber ist für Alle dieselbe.«
Man braucht wahrlich nicht den Widerspruch zu seinem Grundsatze gemacht zu haben, um den Gang der Dinge anders zu denken, als sie uns überliefert oder von irgend einem Historiker dargestellt werden können. Und solange dieses der Fall ist, so lange wird es verstattet sein, die Geschichte des Irrtums zu zeihen, und ihre Ueberlieferungen als falsch anzusehen.
»Aber nun doch noch eine Frage. Was wollen Sie denn zuletzt mit Ihrer Geschichte, mit allen diesen historischen Wahrheiten, Irrthümern, Dichtungen? Welches ist das endliche Ziel Ihrer Studien und Ihrer Bestrebungen?«
Das ist eine große Frage, Ew. Excellenz, die eine weitläufige Antwort nothwendig macht. In der Kürze wüßte ich sie in der That nicht besser zu beantworten als mit Faust's Worten:

Was der ganzen Menschheit zugetheilt ist,

Will ich in meinem inneren Selbst erkennen.

»Genießen, wollen Sie sagen.«
Ew. Excellenz halten's zu Gnaden: ich möchte doch bei dem Erkennen bleiben, und mich mit dem Genusse begnügen, den etwa das Erkennen abwirft. Das Erkannte aber möchte ich alsdann durch Lehre und Schrift mittheilen. Übrigens darf ich wohl nicht hinzufügen, daß ich natürlich nur von meinem Wunsch und Willen gesprochen habe; das Vollbringen liegt nur zum kleinsten Theil in des Menschen Hand. Aber in magnis voluisse sat est.
»Ja, ja. Wir haben nunmehr Stoff zu vielen künftigen Unterhaltungen. Aber es ist schon weit am Tage, wir müssen's dießmal unterbrechen.«
„Nun, nun! sagte er dann, wenn Sie in Jena sind, so sind wir ja nahe beieinander und können zueinander und können uns schreiben, wenn etwas vorfällt.“
... seine Besuche sind mir nicht wohltätig, ich kann nicht offen gegen ihm sein, manchmal ist er ganz wie verrückt, und nicht allein mir kommt er so vor, sondern mehreren Menschen.
Die Lüge bleibt immer; sie ist nur abermals zurück geworfen, und zurück geworfen auf die Sache selbst; und wir bekommen stets ein unwahres, ein verzerrtes, ein schiefes und falsches Bild von der früheren Welt. Und besser wäre doch wohl, sich gar nicht um die Vergangenheit zu bekümmern, als falsche, also unnütze und verwirrende Vorstellungen von derselben mit uns herumzutragen. Dadurch werden wir nur verführt, auch die Welt, in der wir leben, falsch aufzufassen, und verkehrt in ihr und auf sie zu wirken.