Samstag, 25. April 2009

Goethe hatte einen Band der Farbenlehre vor sich liegen. „Ich bin“, sagte er, „Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phänomens der farbigen Schatten schuldig. Da dieses aber vieles voraussetzt und mit vielem andern zusammenhängt, so will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgerissene Erklärung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut sein würde, wenn wir die Abende, die wir zusammenkommen, die ganze Farbenlehre miteinander durchlesen. Dadurch haben wir immer einen soliden Gegenstand der Unterhaltung, und Sie selbst werden sich die ganze Lehre zu eigen machen, so daß Sie kaum merken, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte fängt bei Ihnen an zu leben und wieder produktiv zu werden, wodurch ich denn voraussehe, daß diese Wissenschaft sehr bald Ihr Eigentum sein wird. Nun lesen Sie den ersten Abschnitt.“
Wir sprachen von Professoren, die, nachdem das Bessere gefunden, immer noch die Newtonische Lehre vortragen. „Dies ist nicht zu verwundern,“ sagte Goethe; „solche Leute gehen im Irrtum fort, weil sie ihm ihre Existenz verdanken. Sie müßten umlernen, und das wäre eine sehr unbequeme Sache.“ „Aber,“ sagte ich, „wie können ihre Experimente die Wahrheit beweisen, da der Grund ihrer Lehre falsch ist?“ – „Sie beweisen auch die Wahrheit nicht,“ sagte Goethe, „und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deshalb verbergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte.“