Als ich ihm ein scharfes Witzwort eines unsrer Freunde mittheilte, wurde er ganz aufgebracht und zornig. »Durch solche böswillige und indiscrete Dichteleien macht man sich nur Feinde und verbittert Laune und Existenz sich selbst. Ich wollte mich doch lieber aufhängen, als ewig negiren, ewig in der Opposition sein, ewig schlußfertig auf die Mängel und Gebrechen meiner Mitlebenden, Nächstlebenden lauern. Ihr seid noch gewaltig jung und leichtsinnig, wenn ihr so etwas billigen könnt. Das ist ein alter Sauerteig, der den Character inficirt hat und aus der Revolutionszeit stammt.« In solcher Heftigkeit ward Goethe immer beredter, immer geistreicher, immer aufrichtiger und dabei wohlmeinender in der Richtung seiner Aussprüche, so daß es mir ganz lieb war, durch jene Mittheilung seine Explosion provocirt zu haben.
Dienstag, 27. Oktober 2020
Abends war ich einige Stunden bei Goethe, der noch unpaß, doch schon besser war. Später kam Coudray hinzu, dann Huschke. Goethe sprach über den Gebrauch des Thees. »Er wirkt stets wie Gift auf mich,« sagte er, »und doch was sollten die Frauen ohne ihn anfangen? Das Thee machen ist eine Art Function, eine eingebildete Thätigkeit, besonders in England. Und da sitzen sie gar behaglich umher, und sind weiß, und sind schön, und sind lang, und da müssen wir sie schon sitzen lassen.«
Ich
frug, ob er Seidel's literarisches Geschenk »Charinomos« gelesen habe?
»Keineswegs, nichts ist mir hohler und fataler wie ästhetische Theorien. Ich
bin zu alt, um noch neue Theorien in meinen Kopf zu bringen. Ein Lied, eine
Erzählung irgend etwas Producirtes - das lese ich wohl und gerne, wenn es gut
ist; das beseelt um mich herum. Auch Urtheile sind etwas Geschaffenes, Thätiges
und vor allen lobe ich mir meine Globisten, aber was ein Anderer denkt, wie
kann mich das kümmern? Ich kann doch nicht wie er denken, weil ich Ich und
nicht Er bin. Wie können sich nur die Leute einbilden, daß mich ihr Denken
interessiren könnte, z.B. Cousin?«
….
Im Ganzen war er heut sehr mild und freundlich.