Sonntag, 12. April 2009

„Man kann nicht wissen, wie sich das dreht und wendet,“ sagte er dann; ich habe manchen hübschen Freund in Berlin, da habe ich denn dieser Tage Ihrer gedacht.“
Es ist mit den Völkern, wie mit den Menschen. Die Völker bestehen ja aus Menschen. Auch sie treten ins Leben, wie die Menschen, treiben's, etwas länger, in gleich wunderlicher Weise, und sterben gleichfalls entweder eines gewaltsamen Todes, oder eines Todes vor Alter und Gebrechlichkeit. Die Gesammtnoth und die Gesammtplage der Menschen ist eben die Noth und die Plage der Völker.
»Alles, was Sie da vorbringen, kann nichts gelten. In der Poesie giebt es keine Widersprüche. Diese sind nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poesie. Was der Dichter schafft, das muß genommen werden, wie er es geschaffen hat. So wie er seine Welt gemacht hat, so ist sie. Was der poetische Geist erzeugt, muß von einem poetischen Gemüth empfangen werden. Ein kaltes Analysiren zerstört die Poesie und bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig, die zu nichts dienen und nur incommodiren.«
Eben deßwegen habe ich alles Räsonniren verworfen, und nehme die Handlung rein und lauter, wie sie dargestellt, und jedes Wort, wie es gesprochen worden ist.
»Aber Sie nehmen nur immer die einzelnen Scenen, Sprüche, Wörter, und wollen von dem Ganzen nichts wissen.«
Weil es dem Dichter nicht gefallen hat, uns ein Ganzes zu geben. Wir haben ja nur Bruchstücke.

»Aber eben weil es Bruchstücke sind, müssen sie ja zu einem Ganzen gehören, und im Ganzen poetisch aufgefaßt werden.«
Er fing sogleich an von meinem Manuskript zu reden. „Ich komme eben von Ihnen her, sagte er; ich habe den ganzen Morgen in Ihrer Schrift gelesen; sie bedarf keiner Empfehlung, sie empfiehlt sich selber.“
In meiner Art auf und ab wandelnd, war ich seit einigen Tagen an einem alten Manne von etwa 78 bis 80 Jahren häufig vorübergegangen, der auf sein Rohr mit einem goldenen Knopfe gestützt dieselbe Straße zog, kommend und gehend. Ich erfuhr, es sei ein vormaliger hochverdienter General aus einem alten, sehr vornehmen Geschlechte. Einige Male hatte ich bemerkt, daß der Alte mich scharf anblickte, auch wohl, wenn ich vorüber war, stehen blieb und mir nachschaute. Indeß war mir das nicht auffallend, weil mir dergleichen wohl schon begegnet ist. Nun aber trat ich einmal auf einem Spaziergang etwas zur Seite, um, ich weiß nicht was, genauer anzusehen. Da kam der Alte freundlich auf mich zu, entblößte das Haupt ein wenig, was ich natürlich anständig erwiederte, und redete mich folgendermaßen an: ›Nicht wahr, Sie nennen sich Herr Goethe?‹ – Schon recht. – ›Aus Weimar?‹ – Schon recht. – ›Nicht wahr, Sie haben Bücher geschrieben?‹ – O ja. – ›Und Verse gemacht?‹ – Auch. – ›Es soll schön sein.‹ – Hm! – ›Haben sie denn viel geschrieben?‹ – Hm! es mag so angehen. – ›Ist das Versemachen schwer?‹ – So, so! – ›Es kommt wohl halter auf die Laune an? ob man gut gegessen und getrunken hat, nicht wahr?‹ – Es ist mir fast so vorgekommen. – ›Na schauen S'! da sollten Sie nicht in Weimar sitzen bleiben, sondern halter nach Wien kommen.‹ – Hab' auch schon daran gedacht. – ›Na schauen S'! in Wien ist's gut; es wird gut gegessen und getrunken.‹ – Hm! – ›Und man hält was auf solche Leute, die Verse machen können.‹ – Hm! – ›Ja, dergleichen Leute finden wohl gar – wenn S' sich gut halten, schauen S', und zu leben wissen – in den ersten und vornehmsten Häusern Aufnahme.‹ – Hm! ›Kommen S' nur! Melden S' sich bei mir, ich habe Bekanntschaft, Verwandtschaft, Einfluß. Schreiben S' nur: Goethe aus Weimar, bekannt von Karlsbad her. Das letzte ist nothwendig zu meiner Erinnerung, weil ich halter viel im Kopf habe.‹ – Werde nicht verfehlen. – ›Aber sagen S' mir doch, was haben S' denn geschrieben?‹ – Mancherlei, von Adam bis Napoleon, vom Ararat bis zum Blocksberg, von der Ceder bis zum Brombeerstrauch. – ›Es soll halter berühmt sein.‹ – Hm! Leidlich. – ›Schade, daß ich nichts von Ihnen gelesen und auch früher nichts von Ihnen gehört habe! Sind schon neue verbesserte Auflagen von Ihren Schriften erschienen?‹ – O ja! Wohl auch. – ›Und es werden wohl noch mehr erscheinen?‹ – Das wollen wir hoffen. – ›Ja, schauen S', da kauf' ich Ihre Werke nicht. Ich kaufe halter nur Ausgaben der letzten Hand; sonst hat man immer den Ärger, ein schlechtes Buch zu besitzen, oder man muß dasselbe Buch zum zweiten Male kaufen; darum warte ich, um sicher zu gehen, immer den Tod der Autoren ab, ehe ich ihre Werke kaufe. Das ist Grundsatz bei mir, und von diesem Grundsatz kann ich halter auch bei Ihnen nicht abgehen.‹ – Hm! –
Manchmal sehne ich mich nach einem behaglichen Freund ... Goethe ist selten zu sehen, und immer ist etwas um ihn, entweder eine Wolke, ein Nebel oder ein Glanz, wo man nicht in seine Atmosphäre kann.
Lichtenbergs Wohlgefallen an Karikaturen rührt von seiner unglücklichen körperlichen Konstitution mit her, dass es ihn gefreut, etwas noch unter sich zu erblicken. Wie er sich wohl in Rom gemacht haben würde beim Anblick und Einwirkung der Kunst? Er war keine konstruktive Natur, wie Äsop oder Sokrates; nur auf Entdeckung des Mangelhaften gestellt.
Ich lebte in diesen Liedern ganze Wochen und Monate. Dann gelang es mir, den Wilhelm Meister zu bekommen, dann sein Leben, dann seine dramatischen Werke. Den Faust, vor dessen Abgründen menschlicher Natur und Verderbnis ich anfänglich zurückschauderte, dessen bedeutend-rätselhaftes Wesen mich aber immer wieder anzog, las ich alle Festtage. Bewunderung und Liebe nahm täglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in diesen Werken und dachte und sprach nichts als von Goethe.
Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu glauben, daß hiermit nun der ganze innere Goethe gezeichnet sei. Man kann diesen außerordentlichen Geist und Menschen mit Recht einem vielseitigen Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung hin eine andere Farbe spiegelt. Und wie er nun in verschiedenen Verhältnissen und zu verschiedenen Personen ein anderer war, so kann ich auch in meinem Falle nur in ganz beschiedenem Sinne sagen: dies ist mein Goethe.