Sonntag, 5. Mai 2013

Wenn Kindesblick begierig schaut,
Er findet des Vaters Haus gebaut;
Und wenn das Ohr sich erst vertraut,
Ihm tönt der Muttersprache Laut;
Gewahrt es dies und jenes nah,
Man fabelt ihm, was fern geschah,
Umsittigt ihn, wächst er heran;
Er findet eben alles getan.
Man rühmt ihm dies, man preist ihm das:
Er wäre gar gern auch etwas;
Wie er soll wirken, schaffen, lieben,
Das steht ja alles schon geschrieben
Und, was noch schlimmer ist, gedruckt;
Da steht der junge Mensch verduckt,
Und endlich wird ihm offenbar:
Er sei nur, was ein andrer war.

Ich hielt es für unmöglich, daß der hochgefeierte Dichter sich keine jüngere und schönere Geliebte ausgesucht haben sollte, doch schwand allmählich dieser Zweifel, als ich sie in ihrem Hause besuchte und dort mit lauter Andenken des damals in Rom weilenden Freundes umgeben sah. Sie führte mich zu seinem Bilde,  las mir seine Verse vor und bemühte sich, meine Phantasie durch die Schilderung seiner Liebenswürdigkeit zu bestechen. ... Indessen muß man die Geschicklichkeit bewundern, womit diese Frau ihr künstliches Spiel durchzuführen wußte, so daß sie noch in späterer Zeit für Goethes Geliebte galt.
Der Charakter dieser Frau gehörte unstreitig zu den edelsten, und ihr Verstand, der mir zwar nie bedeutend erscheinen wollte, führte sie glücklich an den mannigfachen Klippen des Hoflebens vorüber .  … Es läßt sich nicht leugnen, daß Frau v. Stein bei dem besten Herzen viel Schlauheit und Weltklugheit besitzen mußte; sonst wäre es ihr unmöglich gewesen, bis ans Ende ihrer sehr langen Laufbahn ohne die mindeste Unterbrechung eine Stellung zu behaupten, die sie der Herzogin Luise und Goethen so nahe brachte, daß nur der Tod dieses innige Verhältnis lösen konnte, auf welchem selbst jetzt noch, wo ich dies schreibe, ein undurchdringlicher Schleier ruht. Goethe allein vermöchte es, ihn zu lüften; aber schwerlich wird er sich dazu verstehen. Folglich wird auch die Nachwelt über eine Sache nicht klarer urteilen, die den Zeitgenossen des großen Mannes stets rätselhaft blieb. Dem sei nun, wie ihm wolle! Was auch jener Schleier verhüllen mag, Unwürdiges kann es nicht sein.