Donnerstag, 20. April 2017

Wenn Goethe sich im Gespräch erschliesst, ist er gewöhnlich guter Laune, und er legt Wert darauf, seine Ansichten in einer möglichst originellen Form vorzubringen. Die Wahrheit liegt ihm am Herzen, aber je fester er von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt ist, um so lieber kleidet er sie in ein Paradoxon.

HIPPIAS. Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht, und doch ist das nicht, was er sieht.

AGATHON. Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann.

HIPPIAS. Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punct krank bist? Frage die Ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und in allen Übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche Saite wohl gestimmt sein kann. Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein doppeltes Thebe. Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden? Und wie, wenn alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es empfindest?

AGATHON. Darum bekümmere ich mich wenig. Gesetzt, die Sonne sei nicht so, wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug. Ihr Einfluß in das System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich, wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja wenn sie gar nicht ist.
 
HIPPIAS. Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt? … 
"Ich mag nicht sagen, wie ich denke," erwiederte Goethe. "Es versteckt sich hinter jenem Gerede mehr böser Wille gegen mich, als Sie wissen. Ich fühle darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gern los, und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust versunken, bald ohne Christenthum, und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vaterlande und meinen lieben Deutschen. Sie kennen mich nun seit Jahren hinlänglich und fühlen was an all dem Gerede ist. Wollen Sie aber wissen, was ich gelitten habe, so lesen Sie meine ›Xenien‹, und es wird Ihnen aus meinen Gegenwirkungen klar werden, womit man mir abwechselnd das Leben zu verbittern gesucht hat.
Ein deutscher Schriftsteller – ein deutscher Märtyrer! Ja, mein Guter! Sie werden es nicht anders finden. Und ich selbst kann mich kaum beklagen; es ist allen andern nicht besser gegangen, den meisten sogar schlechter, und in England und Frankreich ganz wie bei uns. Was hat nicht Molière zu leiden gehabt, und was nicht Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen sein, wenn ein früher Tod ihn nicht den Philistern und ihrem Haß enthoben hätte.Und wenn noch die bornirte Masse höhere Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine, und Heine Platen, und jeder sucht den andern schlecht und verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hinleben und Hinwirken die Welt groß und weit genug ist und jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht!"