Samstag, 2. März 2019


Ich mußte, als ich Goethen vor mir hatte, alles fahren lassen, was die langjährige, tiefgenährte Bekanntschaft mit dem Dichter mir einflößen gekonnt, um nur mit dem neubekannten wirksamen Menschen beschäftigt zu sein, der mild, freundlich, treuherzig, anmüthig, geistvoll, kraftreich, mir das Bild eines ganzen Menschen – wenn dieser geringe Ausdruck der hohen Bedeutung fähig ist – in vollständig ausgebreiteter, großartiger, schöner Lebensentwickelung vergegenwärtigte. Das seltene Glück – hier wohl unverdient, doch nicht unwürdig empfangen – einer so milden und biedern Aufnahme, als sei ich ein alter Freund, der längst erwartet worden, mußte mich umsomehr überraschen, als ich die scheue Zurückhaltung, die ihm sooft vorgeworfen worden, in den schriftlichen Berührungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz hatte vermissen können. Nach der ersten Begrüßung, wobei er mir die Hand reichte, sprachen wir gleich sehr vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir seine Hand hin und rief mit Innigkeit: »Sie müssen mir nochmal die Hand geben!« –

Vergebens würde ich den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art des alsbald lebhaften Gesprächs zu schildern suchen; es war wie ein Stück Leben, in tausend Wellen fließend, ein Gefühl im Ganzen wirkend, ohne die einzelnen Bezüge gesondert festhalten zu lassen; jedes Wort eine Blüthe am Zweige eines Baumes, aus der tiefen dunkeln Wurzel her, aber selber doch nur als lustigheitres Gebild des Augenblickes erschlossen. Wie jenen hellenischen Fremden zu Athen, die nach mehreren mit Plato verlebten Tagen ihn ersuchten, sie nun auch zu seinem berühmten Namensvetter, dem Philosophen, zu führen, so ging es fast mir, der ich in täuschender Besinnung leicht diesen herrlichen Mann hätte bitten können, mir nun auch Bekanntschaft des ihm gleichnamigen Schriftstellers zu verschaffen. Ich blieb auf Goethes wiederholtes Anmahnen den ganzen Abend bei ihm, bis Mitternacht sogar; sein Sohn und dessen neuvermählte Gattin waren die einzigen Mitgenossen eines Theils dieser Stunden. Schwer würde ich einige besondere Sprüche aus dem lebendigen Ganzen aussondern; die festesten, kräftigsten Äußerungen, die feinsten erfreulichsten Wendungen, voll Gestalt im Hervorkommen, zerflossen mir unter den Händen, wenn ich sie dem Gedächtniß zum Behalten und Überliefern einprägen wollte.

Wir sprachen über alles, Goethe mit ungewöhnlichem – er sagt' es selbst – Zutrauen von Dingen, die seine Denkart sonst lieber unerörtert lassen mag; auch über den Geist und die Richtung der Entwickelung der Gegenwart, über die Gestalten der nächsten Vergangenheit, Napoleon, Franzosen, Deutschland, Preußen. Wie freut' ich mich des unerschütterlichen Vertrauens, das ich trotz aller Zwischendinge stets in unsres vaterländischen Dichters Vaterlandstreue gesetzt! Wie gerecht, einsichtig und unschuldig waren seine Äußerungen in dieser Hinsicht, von wahrem Geschichtsgefühl, so des Augenblicks, wie der Jahrhunderte beseelt! Er sieht nur früh und schnell die Dinge so, wie die meisten erst spät sie sehen; er hat vieles schon durchgearbeitet und beseitigt, womit wir uns noch plagen, und wir verlangen, er solle unsre Kindereien mitmachen, weil wir sie noch als Ernst nehmen!

Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muss sie sein: denn sie bringt so vieles Glück, dass alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, dass ein so lang Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen, gibts gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, dass gar nicht berechnet werden kann, was ein paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?