Mittwoch, 11. Oktober 2017


Es entstand eine Pause, während welcher Goethe fortfuhr im Zimmer auf- und abzugehen. Ich war indes begierig, über diesen wichtigen Punkt noch etwas weiteres zu hören, und suchte daher Goethen wieder in Anregung zu bringen.



»Liegt denn,« sagte ich, »diese geniale Productivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen, oder liegt sie auch im Körper?«



»Wenigstens,« erwiederte Goethe, »hat der Körper darauf den größten Einfluß. Es gab zwar eine Zeit, wo man in Deutschtand sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar buckelig dachte, allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen Körper hat.



Wenn man von Napoleon gesagt, er sei ein Mensch aus Granit, so gilt dieses besonders auch von seinem Körper. Was hat sich der nicht alles zugemuthet und zumuthen können! Von dem brennenden Sande der Syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau, welche Unsumme von Märschen, Schlachten und nächtlichen Bivouacs liegt da nicht in der Mitte! Und welche Strapazen und körperliche Entbehrungen hat er dabei nicht aushalten müssen! Wenig Schlaf, wenig Nahrung, und dabei immer in der höchsten geistigen Thätigkeit! Bei der fürchterlichen Anstrengung und Aufregung des 18. Brumaire ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tag noch nichts genossen, und ohne nun an seine körperliche Stärkung zu denken, fühlte er sich Kraft genug, um noch tief in der Nacht die bekannte Proclamation an das französische Volk zu entwerfen! Wenn man erwägt, was der alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ihm gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines vollkommenen Helden.


Aber Sie haben ganz recht: der eigentliche Glanzpunkt seiner Thaten fällt in die Zeit seiner Jugend. Und es wollte etwas heißen, daß einer aus dunkler Herkunft und in einer Zeit, die alle Capacitäten in Bewegung setzte, sich so herausmachte, um in seinem siebenundzwanzigsten Jahre der Abgott einer Nation von dreißig Millionen zu sein! Ja, ja, mein Guter, man muß jung sein, um große Dinge zu thun. Und Napoleon ist nicht der einzige.«

Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu sein; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht. Merkwürdig war es mir, daß er, der selbst in so hohen Jahren noch einem bedeutenden Posten vorstand, so ganz entschieden der Jugend das Wort redete und die ersten Stellen im Staat, wenn auch nicht von Jünglingen, doch von Männern in noch jugendlichem Alter besetzt haben wollte. Ich konnte nicht umhin einige hochstehende deutsche Männer zu erwähnen, denen im hohen Alter die nöthige Energie und jugendliche Beweglichkeit zum Betriebe der bedeutendsten und mannigfaltigsten Geschäfte doch keineswegs zu fehlen scheine.



»Solche Männer und ihresgleichen,« erwiederte Goethe, »sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtniß hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.

Heute bei Goethe zu Tisch kam das Gespräch bald wieder auf das Dämonische, und er fügte zu dessen näheren Bezeichnung noch folgendes hinzu.



»Das Dämonische«, sagte er, »ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen ist. In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen.«



»Napoleon«, sagte ich, »scheint dämonischer Art gewesen zu sein.«



»Er war es durchaus«, sagte Goethe, »im höchsten Grade, so daß kaum ein anderer ihm zu vergleichen ist. Auch der verstorbene Großherzog war eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Tatkraft und Unruhe, so daß sein eigenes Reich ihm zu klein war, und das größte ihm zu klein gewesen wäre. Dämonische Wesen solcher Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter.«



»Erscheint nicht auch«, sagte ich, »das Dämonische in den Begebenheiten?«



»Ganz besonders,« sagte Goethe, »und zwar in allen, die wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen. Überhaupt manifestiert es sich auf die verschiedenste Weise in der ganzen Natur, in der unsichtbaren wie in der sichtbaren. Manche Geschöpfe sind ganz dämonischer Art, in manchen sind Teile von ihm wirksam.«