Ich habe öfters bemerkt, dass der Mensch das,
was an ihm das Grösste und Trefflichste ist, selten kennt, noch auch diesen
Vorzügen einen Wert beilegt. Was er hat, sieht er an wie ein reichgeborner
seinen Reichtum, als etwas, das zu ihm gehört, als etwas, das sich von selbst
versteht, als eine Sache, von der er ausgeht. Aber das, wohin seine Wünsche
sich sehnen, was ihm abgeht, was er, sein Dasein zu erweitern und zu ergänzen,
nötig glaubt, das ist es, was ihn aufs stärkste interessiert, worüber er alles
andere vergisst, worum er alles andere hingäbe; eine Empfindung, die der dritte
Zuschauer nicht begreifen kann. Wenn diese Empfindung hoch- und viel begabte
Seelen ergreift, dann verlassen sie den innern weiten Kreis ihres Daseyns und
schwärmen an denen Gränzen herum, die ihnen so gut wie andern gesezt sind.
Sprechen sie alsdann davon, schreiben sie davon, so giebt es meistentheils
etwas Albernes, etwas, das uns über die engen Gränzen der Menschheit nachdenken
und trauren lässt, eben in dem Augenblike, da sie glauben, das Innigste,
Höchste, Treflichste, Lezte ihres ganzen Daseyns für sich gefühlet und andern
oftenbart zu haben.
Sonntag, 23. Oktober 2022
Mir
ist Pilatus wieder die wichtigste Beylage zu dieser Erfahrung. Alle Kräfte
Fähigkeiten, Empfindung, Abstraktion, alle Wissenschaft, Scharfsinn, alles
Anschauen, alles tiefe Gefühl der Menschheit und ihrer Verhältnisse und mehr
Vorzüge, die Lavater in einem so hohen Grade besizt, lässt er zurük, wirft er
weg, um dem Unerreichbaren athemlos nachzuhezen. Ich mögte ihn einem Manne
vergleichen, der Güter, Geld, Besizthümer, Weib, Kinder, Freunde, alles nicht
achtete und vernachlässigte um einen unwiderstehlichen Trieb nach mechanischen
Künsten zu befriedigen und eine Maschine zum fliegen zu erfinden.
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