Dienstag, 19. Mai 2020

»Das Schlimme ist,« fuhr Goethe fort, »daß man im Leben so viel durch falsche Tendenzen ist gehindert worden, und daß man nie eine solche Tendenz erkannt, als bis man sich bereits davon freigemacht.«
»Woran aber,« sagte ich, »soll man sehen und wissen, daß eine Tendenz eine falsche sei?«
»Die falsche Tendenz,« antwortete Goethe, »ist nicht productiv, und wenn sie es ist, so ist das Hervorgebrachte von keinem Werth. Dieses an andern gewahr zu werden, ist nicht so gar schwer, aber an sich selber, ist ein eigenes Ding und will eine große Freiheit des Geistes. Und selbst das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschließen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen loszumachen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat. Ich sage dieses, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einsah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunst eine falsche sei, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich davon loszumachen.« 
Goethe las mir seine Antwort an den König von Bayern. Er hatte sich dargestellt wie einen, der persönlich die Stufen der Villa hinaufgeht und sich in des Königs unmittelbarer Nähe mündlich äußert. »Es mag schwer sein,« sagte ich, »das richtige Verhältniß zu treffen, wie man sich in solchen Fällen zu halten habe.«
»Wer wie ich,« antwortete Goethe, »sein ganzes Leben hindurch mit hohen Personen zu verkehren gehabt, für den ist es nicht schwer. Das einzige dabei ist, daß man sich nicht durchaus menschlich gehen lasse, vielmehr sich stets innerhalb einer gewissen Convenienz halte.«