Mittwoch, 11. Juni 2008

Ohne allen Anlaß meinerseits rief er kurz, nachdem ich eingetreten war, aus: »Es ist doch recht absurd, daß Julie diesen Winter nicht hier ist! Sie weiß gar nicht, wie viel sie mir entzieht und wie viel ich dadurch entbehre, so wenig, als sie weiß, wie ich sie liebe und wie oft ich mich im Geiste mit ihr beschäftige. Ihnen kann ich das wohl sagen, obgleich wir in diesem Punkt Rivals sind; denn ich traue Ihnen zu, daß Sie gleich sehr betrübt über ihre Abwesenheit sind.« Als ich hierauf ihm die Gründe entwickelte, die Ihre (der Gräfin Julie Egloffstein) jetzige Abwesenheit motivirten, erwiederte er: »Sie hat ganz Recht, das begreife ich wohl und habe mir längst im Stillen alles das, was Sie mir jetzt sagen, selbst combinirt und enträthselt, aber nur noch viel lebhafter und passionirter, als Sie es aussprechen, ja, während der Krankheit der Großherzogin habe ich beständig mit wegen Julien gezittert, und noch jetzt werde ich wüthend, wenn ich mir die Möglichkeit denke, daß eine für Julia's Zukunft so höchst passende und wichtige Perspektive (Hofdame zu werden) verloren gehen könnte. Glaubt mir nur, daß der alte Merlin in seiner Dachshöhle sich manche stille Stunde mit solchen Abwesenden beschäftigt, die für ihn eine actio in distans haben (d.h. eine unmittelbare Wirkung in die Ferne). Andere erfreuen mich bloß durch ihre Gegenwart, durch ihre sichtliche Erscheinung, sind aber rein nichts für mich, wenn ich sie nicht vor mir sehe. Mit jenen aber kann ich mich unsichtbar unterhalten und darunter gehört Julie. Ich weiß zu gut daß sie mir durch keine andere jemals ersetzt werden kann, und eben darum bin ich so betrübt, daß sie mir gerade diesen Winter fehlt.« Und dabei war er so gemüthlich, so vertraulich, als ich ihn lange nicht gefunden in diesen Tagen.
Er erzählte mir viel von Marienbad, besonders von der Gräfin Szymanowska, die so wunderschön Klavier spielt, und sagte von ihr, sie sei so schön und so liebenswürdig, daß man trotz ihrer zauberischen Töne froh sei, wenn sie aufhöre, um sie nur sprechen zu hören, und wieder umgekehrt wünsche, sie möge nur wieder spielen, weil ihr Sprechen so sehr aufrege, daß man nur Ruhe bei ihrem Spiel wiederzufinden hoffen könne. Er sagte: ohne alle Einleitung sei er so schnell mit ihr bekannt geworden, wie man in einer milden reinen Luft sich alsobald heimisch fühle. Darauf holte er aus seinem Gartenzimmer ihre Handschrift, aus der er ihren Charakter demonstrirte und las mir dann im höchsten Pathos sein Gedicht an sie vor: drei wunderschöne Stanzen.
Sie sehen also, daß seine Leidenschaft für Ulrike Levezow wenigstens nicht exclusiv ist und daß ich Recht habe zu behaupten, nicht dieses einzelne Individuum, sondern das gesteigerte Bedürfniß seiner Seele überhaupt nach Mittheilung und Mitgefühl habe seinen jetzigen Gemüthszustand herbeigeführt.Die rohe und lieblose Sinnesweise seines Sohnes und Ulrikens (v. Pogwisch) schroffe Einseitigkeit und gehaltlose Naivetät sind freilich nicht gemacht, eine solche Krisis sanft und schonend vorüberzuführen, und die arme Ottilie ist seit seiner Ankunft beständig krank und für ihn so gut wie unsichtbar. Daher macht ihn der grelle Contrast gegen sein heiteres Badeleben mitunter höchst verstimmt und niedergebeugt, wo ihm denn jede äußere Anforderung peinlich wird. In solcher Stimmung trafen ihn gestern leider Tante (Freifrau v. Egloffstein) und Auguste (Gräfin Egloffstein), und wurden sehr bewegt dadurch. Aber das ist nur momentan; mir ist es noch immer gelungen, ihn gesprächig zu machen. Nur vom Sohne her droht alles Übel, da der verrückte Patron gegen den Vater den Piquirten spielt und sogar Ottilien mit sich nach Berlin nehmen will, wodurch alsdann erst alles verloren gehen könnte.