Freitag, 26. August 2016


Christoph Martin Wieland. Platonischen Betrachtungen über den Menschen. 1755. 
In der unendlichen Leiter der lebenden und beseelten Geschöpfe steht der Mensch, wie es scheint, in der Mitte und verbindet die Welt der Geister mit dem unabsehbaren Reiche der Thiere. Seiner Gestalt nach scheinet er weiter nichts als das schönste und vornehmste unter den Thieren; aber seine Werke zeigen, daß englische Fähigkeiten in diesen Leib eingeschränkt sind. Die Vernunft gibt auch seinem sinnlichen Vermögen eine unendlich weitere Ausdehnung als den andern Thieren. Mit Augen, welche schwächer sind als des Adlers, sieht er die entferntesten Gestirne, dringt in die Tiefen des Meeres und entblöst das Eingeweide der Erde. Seine Einbildungskraft entdeckt ihm unzählbare Welten und ahmet von ferne dem Schöpfer nach, der in einem Anblick einen Himmel voll Ordnung und Schönheit aus dem Nichts hervorrufen kann. Er holt das Vergangene zurück und gibt ihm eine zweite Wirklichkeit; er überschaut das Gegenwärtige und deckt sogar den Vorhang der Zukunft auf. Durch die Fähigkeit, seine Begriffe in Ordnung zu bringen, ist er im Stand, unzählige Empfindungen und Vorstellungen zu erhalten, die sich sonst in der Menge verloren hätten. Und durch das Vermögen, die Regel des Schönen und Angenehmen zu entdecken, kann er die Grenzen seiner Vergnügen fast ins Unendliche erweitern. –

Nehmet ihm die Vernunft und lasset nur das Thier übrig: der Mensch wird in einem sehr kleinen Kreise empfinden, er wird immer die  gleichen Vorstellungen haben, er wird wenigen Trieben der Natur immer gleich genug thun; jeder Tag wird ihm der vorige seyn, er wird eine Uhr seyn, die immer gleich läuft, bis sie die Bewegung verliert. Ein Thier ist nicht Meister weder über die Eindrücke, die es von außen bekommt, noch über die Triebe, die dadurch erregt werden. Es kann weder seine Freuden vergrößern, noch seine Schmerzen verringern. Der Mensch empfindet fast jedes Vergnügen dreifach und jedes Mal mit eigenen Reizungen begleitet. Er sieht es zum voraus, er genießt es, eh' es da ist, und die Hoffnung vergrößert es vor seinen Augen. Nachdem er es genossen hat, kann er es wieder erneuern, so oft er will, und vermittelst einer kleinen Entzückung, welche durch die wunderbaren Triebfedern der Imagination hervorgebracht wird, es fast bis zur Lebhaftigkeit der wirklichen Empfindung erhöhen. Seine Gefühle sind feiner, ordentlicher und verknüpfter, und sie sind auch mehr in seiner Gewalt. Selbst die widrigen sind es; denn er kann sie verkleinern, entfernen oder mit angenehmen Farben übermalen; ja, so groß ist die Gewalt der Vernunft, daß sie aus dem Schmerz selbst Vergnügen erzwingen kann. So große Einflüsse hat die Vernunft auf die sinnlichen Kräfte der Seele. Sie erhöhet, verschönert und erweitert sie und adelt das Thier zu einer Art von Engeln.

Donnerstag, 25. August 2016

Schiller. - Dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schicksale angejocht – dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen. 

Montag, 15. August 2016

Er sah sie oft im Lesen an, als wenn er diesen Eindruck sich auf ewig einprägen wollte, und las einigemal falsch, ohne darüber in Verwirrung zu geraten, ob er gleich sonst über die Verwechselung eines Wortes oder Buchstabens als über einen leidigen Schandfleck einer ganzen Vorlesung verzweifeln konnte.
»Sollten nicht«, sagte er manchmal im stillen zu sich selbst, »uns in der Jugend wie im Schlafe die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden? Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein?«

Mittwoch, 3. August 2016

In den meisten Ländern des Morgens dämpft die Härte der Regierung alle die Triebe, die das Herz des Volkes erhöhen sollten. In China haben die ersten Kaiser unter dem Volke die Tugend aufgesucht, um sie dem Throne zu nähern; sie haben mit Ausschliessung ihrer Söhne, das Zepter dem Würdigsten abgetreten; lange haben die Kaiser den Rath der Unterthanen willig angenommen, ihre Fehler erkannt, und dem treuen Diener den Ruhm gelassen, daß die bessern Thaten des Fürsten von seinen Warnungen herkämen. Aber auch in China ist die alte Einfalt der Herrscher durch die Schmeichler verdrungen; Usong gestund es. Die Belohnungen werden durch den Rath unwürdiger Verschnittenen ausgetheilt, der obersten Mandarinen Unterdrückungen übersehen, und das Joch auf das Volk erschweret. Noch gewinnen zuweilen die glänzenden Beyspiele tugendhafter Kaiser, und die siegreiche Beredsamkeit alter Weisen, das Herz eines Fürsten, und bereden ihn, sein Vergnügen, im Glücke des Landes zu suchen. Aber das Uebel ist geschehen, das Herz des Volkes ist in den Koth getreten, und keiner edlen Begierden mehr fähig.

»Danischmend Danischmend!« (rief der Sultan) »was ich sagen würde? – Ich würde« – hier hielt Seine Hoheit eine ziemliche Weile ein, und der schönen Nurmahal pochte das Herz vor Furcht für den ehrlichen, wohl meinenden, aber, in der Tat, gar zu unbedachtsamen Danischmend. – »Ich würde sagen«, fuhr der Sultan endlich fort, »daß du mir den großen Fürsten auf der Stelle nennen sollst, der dies alles getan hat.«

»Sire«, antwortete Danischmend ganz demütig, »ich gestehe freimütig, daß ich, wofern Ihre Hoheit Sich nicht entschließen es selbst zu sein, weder unter Ihren Vorgängern noch unter Ihren Zeitgenossen einen kenne, der dies alles getan hätte. Aber mein Herz sagt mir, daß die Idee eines solchen Fürsten, die ich in diesem Augenblick, wie durch eine Art von Eingebung, auf einmal in meiner Seele fand, kein Hirngespenst ist. Er wird kommen, und sollt es auch erst in vielen Jahrhunderten sein; ganz gewiß wird er kommen, um zu gleicher Zeit die Ehre der Vorsehung, der Menschheit und des Fürstenstandes zu retten, und der Trost eines unglücklichen Zeitalters, das Vorbild der Könige, und die Liebe und Wonne aller Menschen zu sein.«

»Gute Nacht, Danischmend«, sagte der Sultan lächelnd: »ich sehe du rappelst. Unser Prophet befiehlt uns, Leute in deinen Umständen mit Ehrerbietung anzusehen; aber gleichwohl könnte, deucht mich, eine Prise Niesewurz nichts schaden, Freund Danischmend!« 

»Danischmend hat uns die Verdorbenheit der scheschianischen Nation so groß und so allgemein vorgestellt«, sagte die Sultanin, »daß ich nicht begreife, wo er den Mann hernehmen will, der aus diesem Chaos eine neue Welt zu erschaffen fähig sein sollte. Dies bin ich wenigstens gewiß, daß dieser Mann sich nicht am Hofe zu Scheschian gebildet haben kann.« 

Dienstag, 2. August 2016


»Es ist ein trauriges Los aller guten Dinge in der Welt«, fing Danischmend an, als er nach einigen Tagen wieder an das Bette Seiner Hoheit gerufen wurde, »daß sie unter den Händen der Menschen nicht lange unbeschädigt und unverdorben bleiben können. Leider gilt dies von Gesetzgebungen, Staatsverfassungen und Regierungen ganz vorzüglich. Wie vollkommen auch die gesetzmäßige Verfassung eines Staats sein mag, bei der Vollziehung kommt alles auf die Beschaffenheit der Menschen an, in deren Händen die Gewalt ist, welche der Staat dem Fürsten, und der Fürst wieder teilweise denen, die ihm regieren helfen sollen, anzuvertrauen genötigt ist. Wie angelegen ließ sich's nicht der guten Tifan sein, seiner Gesetzgebung eben dadurch die Krone der Vollkommenheit aufzusetzen, daß er ihr die möglichste Dauerhaftigkeit zu geben suchte! Eben darum, weil er einsah, wie sehr alles auf die sittliche Beschaffenheit der Regierten sowohl als der Regierenden ankommt, machte er die moralische Bildung der Scheschianer zum Hauptzweck seiner Erziehungsanstalten, und die Erhaltung der Sitten in der möglichsten Lauterkeit zum Augenmerk aller seiner Verordnungen. Aber eben darum, weil es unmöglich ist unter einem großen Volke die Sitten lange unverdorben zu erhalten, konnt er mit aller seiner Vorsicht mehr nicht bewirken, als daß es mit der sittlichen Verderbnis seines Volkes langsamer zuging, und also der Zeitpunkt des politischen Todes, welchem sich jeder Staat mit immer zunehmender Geschwindigkeit nähert, von dem seinigen etwas weiter entfernt wurde, als es ohne seine Vorkehrungen geschehen wäre.