Christoph Martin Wieland. Platonischen Betrachtungen über den
Menschen. 1755.
In der unendlichen Leiter der
lebenden und beseelten Geschöpfe steht der Mensch, wie es scheint, in der Mitte
und verbindet die Welt der Geister mit dem unabsehbaren Reiche der Thiere.
Seiner Gestalt nach scheinet er weiter nichts als das schönste und vornehmste
unter den Thieren; aber seine Werke zeigen, daß englische Fähigkeiten in diesen
Leib eingeschränkt sind. Die Vernunft gibt auch seinem sinnlichen Vermögen eine
unendlich weitere Ausdehnung als den andern Thieren. Mit Augen, welche
schwächer sind als des Adlers, sieht er die entferntesten Gestirne, dringt in
die Tiefen des Meeres und entblöst das Eingeweide der Erde. Seine
Einbildungskraft entdeckt ihm unzählbare Welten und ahmet von ferne dem
Schöpfer nach, der in einem Anblick einen Himmel voll Ordnung und Schönheit aus
dem Nichts hervorrufen kann. Er holt das Vergangene zurück und gibt ihm eine
zweite Wirklichkeit; er überschaut das Gegenwärtige und deckt sogar den Vorhang
der Zukunft auf. Durch die Fähigkeit, seine Begriffe in Ordnung zu bringen, ist
er im Stand, unzählige Empfindungen und Vorstellungen zu erhalten, die sich
sonst in der Menge verloren hätten. Und durch das Vermögen, die Regel des
Schönen und Angenehmen zu entdecken, kann er die Grenzen seiner Vergnügen fast
ins Unendliche erweitern. –
Freitag, 26. August 2016
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