Sonntag, 23. Oktober 2022

Ich habe öfters bemerkt, dass der Mensch das, was an ihm das Grösste und Trefflichste ist, selten kennt, noch auch diesen Vorzügen einen Wert beilegt. Was er hat, sieht er an wie ein reichgeborner seinen Reichtum, als etwas, das zu ihm gehört, als etwas, das sich von selbst versteht, als eine Sache, von der er ausgeht. Aber das, wohin seine Wünsche sich sehnen, was ihm abgeht, was er, sein Dasein zu erweitern und zu ergänzen, nötig glaubt, das ist es, was ihn aufs stärkste interessiert, worüber er alles andere vergisst, worum er alles andere hingäbe; eine Empfindung, die der dritte Zuschauer nicht begreifen kann. Wenn diese Empfindung hoch- und viel begabte Seelen ergreift, dann verlassen sie den innern weiten Kreis ihres Daseyns und schwärmen an denen Gränzen herum, die ihnen so gut wie andern gesezt sind. Sprechen sie alsdann davon, schreiben sie davon, so giebt es meistentheils etwas Albernes, etwas, das uns über die engen Gränzen der Menschheit nachdenken und trauren lässt, eben in dem Augenblike, da sie glauben, das Innigste, Höchste, Treflichste, Lezte ihres ganzen Daseyns für sich gefühlet und andern oftenbart zu haben.

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