Sonntag, 27. Juni 2021

Ferner wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern bald gewahr, daß moralische Epochen ebensogut wie die Jahreszeiten wechseln. Die Gnade der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die Förderung der Tätigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten können, so wenig als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht bloße Naturereignisse: sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ihrer niemals sicher.

Samstag, 26. Juni 2021

Was aber den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt, ist die unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen wir einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen und Bewußtsein ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt überrascht werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der sie beinah unmöglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend jugendliches Blut, eine durch einzelne Gegenstände leicht zu paralysierende Einbildungskraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des Tags, und man wird ein ungeduldiges Streben, sich aus einer solchen Klemme zu befreien nicht unnatürlich finden.

Solche düstere Betrachtungen jedoch, welche denjenigen, der sich ihnen überläßt, ins Unendliche führen, hätten sich in den Gemütern deutscher Jünglinge nicht so entschieden entwickeln können, hätte sie nicht eine äußere Veranlassung zu diesem traurigen Geschäft angeregt und gefördert. Es geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die poetische, deren große Vorzüge ein ernster Trübsinn begleitet, welchen sie einem jeden mitteilt, der sich mit ihr beschäftigt. Der geistreiche Brite sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die alle seine Kräfte anregt; er wird früher oder später gewahr, daß er allen seinen Verstand zusammennehmen muß, um sich mit ihr abzufinden. Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und rauschendes Leben geführt, und sich früh berechtigt gefunden, die irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich in den Weltgeschäften versucht, und im Parlament, bei Hofe, im Ministerium, auf Gesandtschaftsposten teils die ersten, teils untere Rollen gespielt, und sich bei inneren Unruhen, Staats- und Regierungsveränderungen mitwirkend erwiesen und, wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freunden und Gönnern öfter traurige als erfreuliche Erfahrungen gemacht! Wie viele sind verbannt, vertrieben, im Gefängnis gehalten, an ihren Gütern beschädigt worden!

Aber auch nur Zuschauer von so großen Ereignissen zu sein, fordert den Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter führen, als zur Betrachtung der Vergänglichkeit und des Unwerts aller irdischen Dinge. Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie höchst gemäß, und, weil sie sich aus einem höheren Zustande herschrieb, imposant. Man findet in ihr durchaus einen großen, tüchtigen, weltgeübten Verstand, ein tiefes, zartes Gemüt, ein vortreffliches Wollen, ein leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Eigenschaften, die man von geistreichen gebildeten Menschen rühmen kann; aber das alles zusammengenommen macht noch keinen Poeten. Die wahre Poesie kündet sich dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als Schmerz zu mäßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der englischen meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im Durchschnitt nur einen düstern Überdruß des Lebens zeigen. Nicht Youngs »Nachtgedanken« allein, wo dieses Thema vorzüglich durchgeführt ist, sondern auch die übrigen betrachtenden Gedichte schweifen, eh man sich's versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem Verstande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lösen nicht hinreicht, da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen kann, im Stiche läßt. Ganze Bände könnte man zusammendrucken, welche als ein Kommentar zu jenem schrecklichen Texte gelten können:

Then old Age and Experience, hand in hand,
Lead him to death, and make him understand,
After a search so painful and so long,
That all his life he has been in the wrong.

Donnerstag, 17. Juni 2021

Carl Friedrich Zelter schrieb im April des Jahres 1812 an Johann Wolfgang von Goethe folgende Zeilen: «Wäre ich in Frankfurt geboren, so wäre mit mir alles anders. Hier in Berlin, wo nichts alt, nichts öffentlich, nichts allgemein ist, ist es wahrhaftig kein Spass, über seinen eigenen Mist hinauszureichen, worin sich alles so weich und warm behagt.» Und Goethe sagte einmal: «Wenn ich nicht Goethe wäre, so möchte ich Zelter sein.» 

Montag, 14. Juni 2021

 

"Auch nicht geringe Last und Not!" erwiderte Goethe mit einem Seufzer.