Sonntag, 26. Februar 2012

Am 17. Mai traf ich Sulpice Boisserée bei Goethe, dessen Besuch ihn sehr erfreute.

Ottilie konnte sich noch nicht sehen lassen, ein unglücklicher Fall hatte ihr Gesicht getroffen, und Goethe hatte sich bis jetzt selbst noch immer gescheut, ihr entstelltes Antlitz zu sehen; »Denn,« sagte er, »ich werde solche häßliche Eindrücke nicht wieder los, sie verderben mir für immer die Erinnerung.
Ich bin hinsichtlich meines sinnlichen Auffassungsvermögens so seltsam geartet, daß ich alle Umrisse und Formen aufs schärfste und bestimmteste in der Erinnerung behalte, dabei aber durch Mißgestaltungen und Mängel mich aufs lebhafteste afficirt finde. Der schönste kostbarste Kupferstich, wenn er einen Flecken oder Bruch bekommt, ist mir sofort unleidlich. Wie könnte ich mich aber über diese oft freilich peinliche Eigenthümlichkeit ärgern, da sie mit andern erfreulichen Eigenschaften meiner Natur innigst zusammenhängt? Denn ohne jenes scharfe Auffassungs-und Eindrucksvermögen könnte ich ja auch nicht meine Gestalten so lebendig und scharf individualisirt hervorbringen. Diese Leichtigkeit und Präcision der Auffassung hat mich früher lange Jahre hindurch zu dem Wahne verführt, ich hätte Beruf und Talent zum Zeichnen und Malen; erst spät gewahrte ich, daß es mir an dem Vermögen fehlte, in gleichem Grade die empfangenen Eindrücke nach außen wiederzugeben.«

Goethe sagte zu Ottilie, als sie meinte, Schiller langweile sie oft: »Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn.«
»Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß und mit niedergesenktem Haupte mir in der Mitte des Sehorgans eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich, die hervorquellende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie solange, als mir beliebte, ermattete nicht und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen, wenn ich mir den Zierat einer bunt gemalten Scheibe dachte, welcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich immerfort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen Kaleidoskope. Ich erinnere mich nicht, inwiefern bei dieser regelmäßigen Bewegung eine Zahl zu bemerken gewesen, vermutlich aber bezog sie sich auf den Acht-Strahl, denn nicht weniger Blätter hatten die oben gemeldeten Blumen. Mit andern Gegenständen fiel mir nicht ein, den Versuch zu machen; warum aber diese bereitwillig von selbst hervortraten, mochte darin liegen, daß die vieljährige Betrachtung der Pflanzenmetamorphose, sowie nachheriges Studium der gemalten Scheiben, mich mit diesen Gegenständen ganz durchdrungen hatte; und hier tritt hervor, was Herr Purkinje so bedeutend anregt. Hier ist die Erscheinung des Nachbildes, Gedächtnis, produktive Einbildungskraft, Begriff und Idee alles auf einmal im Spiel und manifestiert sich in der eignen Lebendigkeit des Organs mit vollkommener Freiheit ohne Vorsatz und Leitung.«
Wolf berichtet von den Stadtneuigkeiten, von dem Großvater, der sich wieder einmal mit Tante Ulrike gezankt habe. Er ging nach Art desselben langsam, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper etwas geneigt, den Kopf gehoben, die weit offenen Augen auf uns gerichtet, im Zimmer auf und nieder; dabei sagte er mit grollender Stimme: »Frauenzimmerchen, Frauenzimmerchen! ihr treibt's mir bald zu arg.« Ich mußte lachen, ermahnte aber doch meinen jungen Freund, des Großvaters nicht etwa zu spotten.

Dienstag, 14. Februar 2012

Wir hatten nicht lange geredet, als der Kanzler hereintrat und sich zu uns setzte. Er erzählte uns Nachrichten aus öffentlichen Blättern, unter andern von einem Wärter einer Menagerie, der aus Gelüste nach Löwenfleisch einen Löwen getötet und sich ein gutes Stück davon zubereitet habe. „Mich wundert“, sagte Goethe, „daß er nicht einen Affen genommen hat, welches ein gar zarter schmackhafter Bissen sein soll.“ Wir sprachen über die Häßlichkeit dieser Bestien, und daß sie desto unangenehmer, je ähnlicher die Rasse dem Menschen sei. Ich begreife nicht, sagte der Kanzler, wie fürstliche Personen solche Tiere in ihrer Nähe dulden, ja vielleicht gar Gefallen daran finden können. „Fürstliche Personen“, sagte Goethe, „werden so viel mit widerwärtigen Menschen geplagt, daß sie die widerwärtigeren Tiere als Heilmittel gegen dergleichen unangenehme Eindrücke betrachten. Uns andern sind Affen und Geschrei der Papageien mit Recht widerwärtig, weil wir diese Tiere hier in einer Umgebung sehen, für die sie nicht gemacht sind. Wären wir aber in dem Fall, auf Elefanten unter Palmen zu reiten, so würden wir in einem solchen Element Affen und Papageien ganz gehörig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber, wie gesagt, die Fürsten haben recht, etwas Widerwärtiges mit etwas noch Widerwärtigerem zu vertreiben.“
„Hierbei“, sagte ich, „fällt mir ein Vers ein, den Sie vielleicht selber nicht mehr wissen:

Wollen die Menschen Bestien sein,
So bringt nur Tiere zur Stube herein,
Das Widerwärtige wird sich mindern;
Wir sind eben alle von Adams Kindern.

Goethe lachte. „Ja“, sagte er, „es ist so. Eine Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben werden, die noch gewaltiger ist.“
Wir standen auf, um zu gehen. Goethe aber war so voller Leben, daß das Gespräch noch eine Weile stehend fortgesetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll und ich begleitete den Kanzler nach seiner Wohnung. Es war ein schöner Abend und wir sprachen im Gehen viel über Goethe. Besonders aber wiederholten wir uns gerne jenes Wort, daß eine Opposition ohne Einschränkung platt werde.