Montag, 26. September 2022

Denn das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit, und um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.
Weiß Gott! Ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin elend. 

Dienstag, 20. September 2022

Alles in dieser Welt läuft auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer Willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre, oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.

Gefährlich sind solche Bestien wie Ihr seid, die alles ringsum mit Fäulnis anstecken, die alles Schöne und Gute begeifern und bescheißen und dann der Welt glauben machen, es sei alles nicht besser als ihr eigener Kot.  

Samstag, 17. September 2022

«Die Beschäftigung mit Unsterblichkeitsideen», fuhr Goethe fort, «ist für vornehme Stände und besonders für Frauenzimmer, die nichts zu tun haben. Ein tüchtiger Mensch aber, der schon hier etwas Ordentliches zu sein gedenkt und der daher täglich zu streben, zu kämpfen und zu wirken hat, läßt die künftige Welt auf sich beruhen und ist tätig und nützlich in dieser. Ferner sind Unsterblichkeitsgedanken für solche, die in Hinsicht auf Glück hier nicht zum besten weggekommen sind, und ich wollte wetten, wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken.»

Mittwoch, 14. September 2022

»Ich habe den großen Vorteil,« fuhr er fort, »daß ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution, und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen.«


Was uns die nächsten Jahre bringen werden, ist durchaus nicht vorherzusagen; doch ich fürchte, wir kommen so bald nicht zur Ruhe. Es ist der Welt nicht gegeben, sich zu bescheiden; den Grossen nicht, dass kein Missbrauch der Gewalt stattfinde, und der Masse nicht, dass sie in Erwartung allmählicher Verbesserungen mit einem mässigen Zustande sich begnüge. Könnte man die Menschheit vollkommen machen, so wäre auch ein vollkommener Zustand denkbar; so aber wird es ewig herüber und hinüber schwanken, der eine Teil wird leiden, während der andere sich wohl befindet, Egoismus und Neid werden als böse Dämonen immer ihr Spiel treiben, und der Kampf der Parteien wird kein Ende haben.
Das Vernünftigste ist immer, dass jeder sein Metier treibe, wozu er geboren ist und was er gelernt hat, und dass er den andern nicht hindere, das seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem Pflug, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das gelernt sein will, und das sich niemand anmassen soll, der es nicht versteht.

Montag, 12. September 2022

"Könnten Geist und höhere Bildung", sagte er, "ein Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber muss er sich immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, dass seine Werke in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich in acht zu nehmen, dass er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu grosse Offenheit kein Ärgernis gebe."

"Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding. Sie ist ein Tyrann, der seine Launen hat und der zu dem, was einer sagt und tut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und was Shakespeares kräftigen Mitmenschen durchaus anmutete, kann der Engländer von 1820 nicht mehr ertragen, so daß in der neuesten Zeit ein Family-Shakespeare ein gefühltes Bedürfnis wird."

Sonntag, 4. September 2022

Goethe zeigte mir heute zwei höchst merkwürdige Gedichte, beide in hohem Grade sittlich in ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich und wahr, dass die Welt dergleichen unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er sie denn auch geheim hielt und an eine öffentliche Mitteilung nicht dachte.

Samstag, 3. September 2022

Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine Comédie à tiroir, ein schlechtes Schubladenstück. Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und eilt zur folgenden. Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen. Man muss überall von vorn anfangen und möchte überall enden.

Freitag, 2. September 2022

Einen guten Gedanken, den wir gelesen, etwas Auffallendes, das wir gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden. Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versäumnis wieder gut zu machen.