Goethes
Klassizismus hat seinem Diskurs des Sehens, des Anblickens, der sein ganzes
Werk kennzeichnet, eine ganz besondere Volte gegeben. Denn im Unterschied zur
Romantik, deren entgrenzende Bildphantasie sich gewissermassen den Konsequenzen
der Katastrophe nicht konkret stellte, indem sie diese ins Grenzenlose hob, ist
dem klassizistischen Bewusstsein der Verlust einer jeweiligen Gegenwart durch
nichts ersetzbar. In seiner klaren Konkretheit und also Verletzbarkeit verbirgt
sich im Klassizismus also eine grössere Affinität zum tragischen Bewusstsein.
Samstag, 23. Januar 2016
... denn dieses
(das tragische Bewusstsein) begründet sich im Gefühl des Verlustes der
utopischen Sphäre, und zwar in einer Radikalität, die nur Goethes Klassizismus
möglich war. Warum?
Um diese Radikalität angemessen zu verstehen,
ist es nötig, die Differenz von Geothes Verlusttrauer zu jener Trauer kurz
anzudeuten, die das grosse Thema des deutschen Idealismus gewesen ist: die
Trauer um den Verlust des Goldenen Zeitalters, das heisst die Trauer um den
Verlust des Griechisch-Schönen. Es waren Friedrich Schiller und dann Hölderlin,
die diesen Verlust vor allem zum Thema sowohl ihrer grossen Lyrik als auch ihres
theoretischen Nachdenkens gemacht haben.
...
Mittwoch, 13. Januar 2016
Seltsam schiefe
Stellung des Friedrich von Müller. Ihm erscheint ein anderer Goethe, und Goethe
duldet und schätzt ihn, weil er sich ihm gegenüber anders zeigen kann, sehr
düster, pessimistisch, bissig und ungezogen. Er verbirgt vor ihm Dinge, er
bricht Unterhaltungen ab, in dem er ans Fenster geht und dort in einem Buch zu
lesen beginnt, er schimpft, lässt seinen Launen freien Lauf.
Darüber war ich sehr froh;
denn nichts ist peinlicher als das Zusammensein mit ihm, wenn er jeden
Gesprächsfaden sogleich fallen lässt oder abreisst, auf jede Frage mit. „Gute
Menschen! es ist ihnen aber nicht zu helfen“ oder „Da mögt Ihr jungen Leute
zusehen, ich bin zu alt dazu“ antwortet und manche lange Pause mit nichts als
Hm! Hm! ausfüllt, auch wohl den Kopf wie aus Schläfrigkeit sinken lässt.
... „Sie hat etwas“,
sagte Goethe, „wovon Ihr beide keinen Begriff habt und welches ich nicht
verraten will.“ ....
„Da wir allein sind“, sagte Goethe, „so kann ich
Ihnen wohl entdecken, wie es um jenes Fräulein steht. - Geist hat sie nicht,
denn dies ist etwas sehr Seltenes, besonders bei Frauen. Aber sie hat eine
gewisse innere Freiheit, wodurch sie dem Augenblick überlegen ist und wodurch
sie oft höchst anmutig und angenehm sein kann. ... “
Samstag, 2. Januar 2016
Bey manchen
innern stillen Arbeiten, wobey ich dein immerfort gedenke, bin ich doch auch in
das neuere Französische mitunter hineingezogen worden und habe bey solcher
Veranlassung über die Réligion Simonienne nachzudenken gehabt. An der Spitze
dieser Secte stehen sehr gescheite Leute, sie kennen die Mängel unserer Zeit
genau und verstehen auch das Wünschenswerthe vorzutragen; wie sie aber anmaßen
wollen, das Unwesen zu beseitigen und das Wünschenswerthe zu befördern, so
hinkt sie überall. Die Narren bilden sich ein, die Vorsehung verständig spielen
zu wollen, und versichern, jeder solle nach seinem Verdienst belohnt werden,
wenn er sich mit Leib und Seele, Haut und Haar an anschließt und sich mit ihnen
vereinigt.
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