Donnerstag, 29. Januar 2009

Es sind über sechzig Jahre, daß die Konzeption des Faust bei mir jugendlich von vorneherein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag. Nun hab ich die Absicht immer sachte neben mir hergehen lassen, und nur die mir gerade interessantesten Stellen einzeln durchgearbeitet, so daß im zweiten Teil Lücken blieben, durch ein gleichmäßiges Interesse mit dem übrigen zu verbinden. Hier trat nun freilich die große Schwierigkeit ein, dasjenige durch Vorsatz und Charakter zu erreichen, was eigentlich der freiwillig tätigen Natur allein zukommen sollte. Es wäre aber nicht gut, wenn es nicht auch nach einem so langen, tätig nachdenkenden Leben möglich geworden wäre, und ich lasse mich keine Furcht angehen, man werde das Ältere vom Neueren, das Spätere vom Früheren unterscheiden können, welches wir denn den künftigen Lesern zur geneigten Einsicht übergeben wollen.
Ganz ohne Frage würd es mir unendliche Freude machen, meinen werten, durchaus dankbar anerkannten, weit verteilten Freunden auch bei Lebzeiten diese sehr ernsten Scherze zu widmen, mitzuteilen und ihre Erwiderung zu vernehmen. Der Tag aber ist wirklich so absurd und konfus, daß ich mich überzeuge, meine redlichen, lange verfolgten Bemühungen um dieses seltsame Gebäu würden schlecht belohnt und an den Strand getrieben, wie ein Wrack in Trümmern daliegen und von dem Dünenschutt der Stunden zunächst überschüttet werden. Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige was an mir ist und geblieben ist wo möglich zu steigern und meine Eigentümlichkeiten zu kohobieren, wie Sie es, würdiger Freund, auf Ihrer Burg ja auch bewerkstelligen. Teilen Sie mir deshalb auch etwas von Ihren Arbeiten mit; Riemer ist, wie Sie wohl wissen, an die gleichen und ähnlichen Studien geheftet und unsere Abendgespräche führen oft auf die Grenzen dieses Faches. Verzeihung diesem verspäteten Blatte! Ohngeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich diese Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag.
treu angehörig
Weimar den 17. März 1832
J. W. v. Goethe

Mittwoch, 14. Januar 2009

Dies Werk ist so vortrefflich, dass Goethe, als er es den Schauspielern vorlas, selbst bitterlich weinte; das ist das Schönste, was ich von ihm gehört habe, überhaupt erscheint er mir, seit ich vieles und näheres von ihm höre, als der einfachste edelste reinste Mensch, und von Stolz und Kälte sprechen nur die Schafsköpfe.
Aber in dem sogenannten Genuss seines vollen Lebens darf ihn nichts stören.
«Verfluchen muß man das Produkt», sagte er im September 1786 zu Wilhelm von Humboldt über Friedrich Schlegels Alarcos.
Auf Herders dritten Teil freu’ ich mich sehr. Hebt mir ihn auf, bis ich sagen kann, wo er mir begegnen soll. Er wird gewiss den schönen Traumwunsch der Menschheit, dass es dereinst besser mit ihr werden sollte, trefflich ausgeführt haben. Auch muss ich selbst sagen, halt’ ich es für wahr, dass die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht’ ich, dass zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des andern humaner Krankenwärter sein werde.
Die Menschen werfen sich im Politischen wie auf dem Krankenlager von einer Seite zur andern, in der Meinung besser zu liegen.

Montag, 12. Januar 2009

Goethe verdirbt einem meistenteils die Gesellschaft. Wahre Güte des Herzens gibt auch Lebensart. Goethe hat eigentlich nur Schwäche des Herzens; dies habe ich lange für Güte gehalten.
Als er am 19. Januar 1802 Schiller eine Abschrift des Iphigeniendramas schickt, schreibt er: "Ich habe hie und da hineingesehen, es ist ganz verteufelt human."
Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponiert. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.
Vom Wahnsinn gab Goethe die einfache Definition, daß er darin bestehe, wenn man von der wahren Beschaffenheit der Gegenstände und Verhältnisse, mit denen man es zu tun habe, weder Kenntnis habe noch nehmen wolle, diese Beschaffenheit hartnäckig ignoriere.

Donnerstag, 8. Januar 2009

Denn es ging mir mit diesen Entwickelungen natürlicher Phänomene wie mit Gedichten, ich machte sie nicht, sondern sie machten mich.

Mittwoch, 7. Januar 2009

Freilich konnte ich auf diese Weise nur didaktisch und dogmatisch verfahren, eine eigentlich dialektische und konversierende Gabe war mir nicht verliehen. Oft aber trat auch eine böse Gewohnheit hervor, deren ich mich anklagen muß: da mir das Gespräch, wie es gewöhnlich geführt wird, höchst langweilig war, indem nichts als beschränkte, individuelle Vorstellungsarten zur Sprache kamen, so pflegte ich den unter Menschen gewöhnlich entspringenden bornierten Streit durch gewaltsame Paradoxe aufzuregen und ans Äußerste zu führen. Dadurch war die Gesellschaft meist verletzt und in mehr als einem Sinne verdrießlich. Denn oft, um meinen Zweck zu erreichen, mußt' ich das böse Prinzip spielen, und da die Menschen gut sein und auch mich gut haben wollten, so ließen sie es nicht durchgehen; als Ernst konnte man es nicht gelten lassen, weil es nicht gründlich, als Scherz nicht, weil es zu herb war; zuletzt nannten sie mich einen umgekehrten Heuchler und versöhnten sich bald wieder mit mir. Doch kann ich nicht leugnen, daß ich durch diese böse Manier mir manche Person entfremdet, andere zu Feinden gemacht habe.

Samstag, 3. Januar 2009

Nach einem Concert, das unsere Erwartungen nicht hinlänglich befriedigte, fuhren wir zu Goethens. Der alte Herr empfing uns ganz besonders zärtlich und entwickelte, als wir bald darauf mit ihm am traulichen Eßtisch saßen, seine ganze Liebenswürdigkeit in Scherz und Ernst auf's Allerreizendste. O, wie hinreißend, wie unwiderstehlich ist der Mann, wenn er in heitrer Gemüthlichkeit sich zwischen seinen Kindern und Freunden bewegt – bald das Größte und Höchste in's Gespräch verflechtend, bald sich scherzhaft wieder zu dem Kleinsten und Unbedeutendsten herabneigend und jedem einen neuen Werth, eine neue Bedeutung verleihend.
Dieser Gegenstand leitete uns dann weiter zurück in die entferntesten Zeiten der erwachenden Cultur zu der Erfindung der Schrift überhaupt, und ich warf Goethe die Frage auf, wie Homer seine Werke eigentlich geschrieben habe.»Diese Frage, mein liebes Engelchen!« sagte er, »kann nur durch weitläufige Erzählungen beantwortet, oder vielmehr verneint werden.«
Abgeschlossen sei das Buch,
Es enthält fürwahr genug;
Was davon dich kann erfreuen,
Wird sich immerfort erneuen,
Und was mag dem Scheiden frommen,
Als ein baldig Wiederkommen?
Er begriff kaum, wie man sich je von ihm wieder entfernen konnte, wenn man einmal seine Nähe genossen hatte. Als Julie sich im Februar 1823 von Weimar verabschiedet, um in das Haus ihrer Mutter zurückzukehren, ist Goethes Betroffenheit am Umschlag in die für ihn so schutzwirksame Geschäftsmässigkeit ablesbar.