Freitag, 29. August 2008

„Liegt denn“, sagte ich, „diese geniale Produktivität bloß im Geiste eines bedeutenden Menschen, oder liegt sie auch im Körper?“

„Wenigstens“, erwiderte Goethe, „hat der Körper darauf den größten Einfluß. – Es gab zwar eine Zeit, wo man in Deutschland sich ein Genie als klein, schwach, wohl gar bucklig dachte; allein ich lobe mir ein Genie, das den gehörigen Körper hat.“

„Wenn man von Napoleon gesagt, er sei ein Mensch aus Granit, so gilt dieses besonders auch von seinem Körper. Was hat sich der nicht alles zugemutet und zumuten können! – Von dem brennenden Sand der syrischen Wüste bis zu den Schneefeldern von Moskau, welche Unsumme von Märschen, Schlachten und nächtlichen Biwaks liegen da nicht in der Mitte! – Und welche Strapazen und körperliche Entbehrungen hat er dabei nicht aushalten müssen! Wenig Schlaf, wenig Nahrung und dabei immer in der höchsten geistigen Tätigkeit! – Bei der fürchterlichen Anstrengung und Aufregung des achtzehnten Brumaire ward es Mitternacht, und er hatte den ganzen Tau noch nichts genossen und ohne nun an seine körperliche Stärkung zu denken, fühlte er sich Kraft genug, um noch tief in der Nacht die bekannte Proklamation an das französische Volk zu entwerfen. – Wenn man erwägt, was der alles durchgemacht und ausgestanden, so sollte man denken, es wäre in seinem vierzigsten Jahre kein heiles Stück mehr an ihm gewesen; allein er stand in jenem Alter noch auf den Füßen eines vollkommenen Helden.“
Ich konnte nicht umhin, einige hochstehende deutsche Männer zu erwähnen, denen im hohen Alter die nötige Energie und jugendliche Beweglichkeit zum Betrieb der bedeutendsten und mannigfaltigsten Geschäfte doch keineswegs zu fehlen scheine.

„Solche Männer und ihresgleichen“, erwiderte Goethe, „sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind.“
„Jede Entelechie nämlich ist ein Stück Ewigkeit, und die paar Jahre, die sie mit dem irdischen Körper verbunden ist, machen sie nicht alt. – Ist diese Entelechie geringer Art, so wird sie während ihrer körperlichen Verdüsterung wenig Herrschaft ausüben, vielmehr wird der Körper vorherrschen, und wie er altert, wird sie ihn nicht halten und hindern. Ist aber die Entelechie mächtiger Art, wie es bei allen genialen Naturen der Fall ist, so wird sie, bei ihrer belebenden Durchdringung des Körpers, nicht allein auf dessen Organisation kräftigend und veredelnd einwirken, sondern sie wird auch, bei ihrer geistigen Übermacht, ihr Vorrecht einer ewigen Jugend fortwährend geltend zu machen suchen. Daher kommt es denn, daß wir bei vorzüglich begabten Menschen auch während ihres Alters immer noch frische Epochen besonderer Produktivität wahrnehmen; es scheint bei ihnen immer einmal wieder eine temporäre Verjüngung einzutreten, und das ist es, was ich eine wiederholte Pubertät nennen möchte.“

„Aber jung ist jung, und wie mächtig auch eine Entelechie sich erweise, sie wird doch über das Körperliche nie ganz Herr werden, und es ist ein gewaltiger Unterschied, ob sie an ihm einen Alliierten oder einen Gegner findet.“
„Ich hatte in meinem Leben eine Zeit, wo ich täglich einen gedruckten Bogen von mir fordern konnte, und es gelang mir mit Leichtigkeit. Meine Geschwister habe ich in drei Tagen geschrieben, meinen Clavigo, wie Sie wissen, in acht. – Jetzt soll ich dergleichen wohl bleiben lassen; und doch kann ich über Mangel an Produktivität selbst in meinem hohen Alter mich keineswegs beklagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen Umständen gelang, gelingt mir jetzt nur periodenweise und unter gewissen günstigen Bedingungen. – Als mich vor zehn, zwölf Jahren, in der glücklichen Zeit nach dem Befreiungskriege, die Gedichte des Divan in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft an einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im Gasthof, es war mir alles gleich. Jetzt, am zweiten Teil meines Faust, kann ich nur in den frühen Stunden des Tags arbeiten, wo ich mich vom Schlaf erquickt und gestärkt fühle und die Fratzen des täglichen Lebens mich noch nicht verwirrt haben. Und doch, was ist es, das ich ausführe! Im allerglücklichsten Fall eine geschriebene Seite; in der Regel aber nur so viel, als man auf den Raum einer Handbreit schreiben könnte, und oft, bei unproduktiver Stimmung, noch weniger.“
„Sodann aber gibt es jene Produktivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist, und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er auch hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung eines Planes gehörige, alle Mittelglieder einer Gedankenkette, deren Endpunkte bereits leuchtend dastehen; ich zähle dahin alles dasjenige, was den sichtbaren Leib und Körper eines Kunstwerkes ausmacht.“
„So kam Shakespearen der erste Gedanke zu seinem Hamlet, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und er die einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als ein reines Geschenk von oben, worauf er keinen unmittelbaren Einfluß gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Aperçu zu haben, immer einen Geist wie den seinigen voraussetzte. – Die spätere Ausführung der einzelnen Szenen aber und die Wechselreden der Personen hatte er vollkommen in seiner Gewalt, so daß er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte, wie es ihm nur beliebte. – Und zwar sehen wir an allem, was er ausführte, immer die gleiche Kraft der Produktion, und wir kommen in allen seinen Stücken nirgends auf eine Stelle, von der man sagen könnte, sie sei nicht in der rechten Stimmung und nicht mit dem vollkommensten Vermögen geschrieben. Indem wir ihn lesen, erhalten wir von ihm den Eindruck eines geistig wie körperlich durchaus und stets gesunden, kräftigen Menschen.“
„Gesetzt aber, eines dramatischen Dichters körperliche Konstitution wäre nicht so fest und vortrefflich, und er wäre vielmehr häufigen Kränklichkeiten und Schwächlichkeiten unterworfen, so würde die zur täglichen Ausführung seiner Szenen nötige Produktivität sicher sehr häufig stocken und oft wohl tagelang gänzlich mangeln. Wollte er nun, etwa durch geistige Getränke die mangelnde Produktivität herbeinötigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde das allenfalls auch wohl angehen, allein man würde es allen Szenen, die er auf solche Weise gewissermaßen forciert hätte, zu ihrem großen Nachteil anmerken.“

„Mein Rat ist daher, nichts zu forcieren und alle unproduktiven Tage und Stunden lieber zu vertändeln und zu verschlafen, als in solchen Tagen etwas machen zu wollen, woran man später keine Freude hat.“

„Sie sprechen,“ erwiderte ich, „etwas aus, was ich selber sehr oft erfahren und empfunden und was man sicher als durchaus wahr und richtig zu verehren hat. – Aber doch will mir scheinen, als ob wohl jemand durch natürliche Mittel seine produktive Stimmung steigern könnte, ohne sie grade zu forcieren. – Ich war in meinem Leben sehr oft in dem Fall, bei gewissen komplizierten Zuständen zu keinem rechten Entschluß kommen zu können. Trank ich aber in solchen Fällen einige Gläser Wein, so war es mir sogleich klar, was zu tun sei, und ich war auf der Stelle entschieden. – Das Fassen eines Entschlusses ist aber doch auch eine Art Produktivität, und wenn nun einige Gläser Wein diese Tugend bewirkten, so dürfte ein solches Mittel doch nicht ganz zu verwerfen sein.“
„Ihrer Bemerkung“, erwiderte Goethe, „will ich nicht widersprechen; was ich aber vorhin sagte, hat auch seine Richtigkeit, woraus wir denn sehen, daß die Wahrheit wohl einem Diamant zu vergleichen wäre, dessen Strahlen nicht nach einer Seite gehen, sondern nach vielen. – Da Sie übrigens meinen Divan so gut kennen, so wissen Sie, daß ich selber gesagt habe:

Wenn man getrunken hat
Weiß man das Rechte,

und daß ich Ihnen also vollkommen beistimme. – Es liegen im Wein allerdings produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art; aber es kommt dabei alles auf Zustände und Zeit und Stunde an, und was dem einen nützt, schadet dem andern. Es liegen ferner produktivmachende Kräfte in der Ruhe und im Schlaf; sie liegen aber auch in der Bewegung. Es liegen solche Kräfte im Wasser und ganz besonders in der Atmosphäre. – Die frische Luft des freien Feldes ist der eigentliche Ort, wo wir hingehören; es ist als ob der Geist Gottes dort den Menschen unmittelbar anwehte und eine göttliche Kraft ihren Einfluß ausübte. – Lord Byron, der täglich mehrere Stunden im Freien lebte, bald zu Pferde am Strand des Meeres reitend, bald im Boote segelnd oder rudernd, dann sich im Meere badend und seine Körperkraft im Schwimmen übend, war einer der produktivsten Menschen, die je gelebt haben.“
„Wissen Sie aber, wie ich es mir denke? – Der Mensch muß wieder ruiniert werden! – Jeder außerordentliche Mensch hat eine gewisse Sendung, die er zu vollführen berufen ist. Hat er sie vollbracht, so ist er auf Erden in dieser Gestalt nicht weiter vonnöten, und die Vorsehung verwendet ihn wieder zu etwas anderem. Da aber hienieden alles auf natürlichem Wege geschieht, so stellen ihm die Dämonen ein Bein nach dem andern, bis er zuletzt unterliegt. So ging es Napoleon und vielen anderen. Mozart starb in seinem sechsunddreißigsten Jahre. Raffael in fast gleichem Alter. – Byron nur um weniges älter. Alle aber hatten ihre Mission auf das vollkommenste erfüllt, und es war wohl Zeit, daß sie gingen, damit auch anderen Leuten in dieser auf eine lange Dauer berechneten Welt noch etwas zu tun übrig bliebe.“

Samstag, 16. August 2008

„Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reiches auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern; wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert, und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat. Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen, geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Kurs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweiten Male findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in solcher Fülle aufgewachsen, in seinem vierundzwanzigsten Jahre wohl etwas sein kann.“
„Sie sagten doch vorhin“, fuhr Goethe fort, „Sie könnten sich sehr wohl denken, daß einer in seinem zwanzigsten Jahre so gute Stücke schreiben könne wie Merimée. Ich habe gar nichts dawider, und bin auch im ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich-tüchtige Produktion leichter sei, als ein jugendlich-tüchtiges Urteil. Allein in Deutschland soll einer es wohl bleiben lassen, so jung wie Merimée etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner Clara Gazul getan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine Räuber, seine Kabale und Liebe und seinen Fiesko schrieb. Allein, wenn wir aufrichtig sein wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Äußerungen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller schuld, sondern der Kulturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir alle erfahren, uns auf einsamen Wegen durchzuhelfen.“

Freitag, 15. August 2008

Hiebei ist soviel zu bemerken: daß der eigentliche Dichter die Herrlichkeit der Welt in sich aufzunehmen berufen ist und deshalb immer eher zu loben als zu tadeln geneigt sein wird. Daraus folgt, daß er den würdigsten Gegenstand aufzufinden sucht und, wenn er alles durchgegangen, endlich sein Talent am liebsten zu Preis und Verherrlichung Gottes anwendet.

Donnerstag, 14. August 2008

Vorzüglich weiss er einem anschaulich zu machen, dass diese Nation mehr als alle andre europäische in gegenwärtigen Genüssen lebt, weil die Milde und Fruchtbarkeit des Himmelsstrichs die Bedürfnisse einfacher macht und ihre Erwerbung erleichtert.
Übrigens lässt sich hierbei bemerken, dass in allen wichtigen politischen Fällen immer diejenigen Zuschauer am besten dran sind, welche Partei nehmen: Was ihnen wahrhaft günstig ist, ergreifen sie mit Freuden, das Ungünstige ignorieren sie, lehnen’s ab oder legen’s ob oder legen’s wohl gar zu ihrem Vorteil aus. Der Dichter aber, der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muss, sucht sich von den Zuständen beider kämpfenden Teile zu durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muss, tragisch zu endigen. Und mit welchem Zyklus von Tragödien sahen wir uns von der tosenden Weltbewegung bedroht!

Montag, 4. August 2008

Wir haben indes neulich ausgemacht, dass er, alten Münzen nach, einmal in Rom dictator perpetuus und imperator unter dem Namen Julius Caesar gewesen, zur Strafe aber nach beinahe achtzehnhundert Jahren zum Geheimerat in Weimar avanciert und promoviert sei. - Lasset uns also Fleiss anwenden, dass wir nicht noch ärger promoviert werden.