Sonntag, 23. März 2008

In die Zeit, in welcher ich die Stelle eines Sekretärs bei Goethe versah, fällt die Herausgabe seiner Werke letzter Hand, und derselbe diktierte mir dafür Neues und Umgearbeitetes, unter anderem auch „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, wobei ich Gelegenheit hatte, die Kraft, Sicherheit und Klarheit seines Geistes in so hohen Jahren zu bewundern. Er tat dies so sicher, fliessend, wie es mancher nur aus einem gedruckten Buche zu tun imstande sein würde.
Wäre das ruhig und ohne äussere Störung und Unterbrechung geschehen, so würde ich kaum aufmerksam geworden sein. Dazwischen aber kam der Barbier, der Friseur (Goethe liess sich alle zwei Tage das Haar brennen, täglich frisieren), der Bibliotheksdiener, öfter der frühere Sekretär Goethes, der kürzlich verstorbene Bibliothekar Rat Kräuter, der Kanzlist, welche alle die Erlaubnis hatten, unangemeldet einzutreten. Der Kammerdiener meldete einen Fremden an, mit wlechem sich Goethe, falls der Annahme, längere oder kürzere Zeit unterhielt; dazwischen trat auch wohl jemand aus der Familie ein. Der Barbier und Friseur erzählten, was in der Stadt etwa passiert sei, der Bibliotheksdiener berichtete von der Bibliothek usw.
Wie beim Anklopfen das kräftige Herein! ertönte, beendigte ich den letzten Satz und wartete, bis der Anwesende sich wieder entfernte. Da wiederholte ich so viel, als mir für den Zusammenhang nötig schien, und das Diktieren ging bis zur nächsten Störung fort, als wäre nichts vorgefallen. Das war mir doch zu arg, und ich sah mich überall im Zimmer um, ob nicht irgendwo ein Buch, ein Konzept oder Brouillon läge, in das Goethe im Vorübergehen schaute (während des Diktierens wandelte derselbe nämlich ununterbrochen um den Tisch und den Schreibenden herum), aber niemals habe ich das Geringste entdecken können.
Als ich meine Verwunderung darüber gegen Hofrat Meyer, Goethes langjährigen Freund, äusserte, mit welchem ich täglich verkehrte, nahm er das als etwas ihm ganz Bekanntes auf und erzählte mir einen anderen Fall: Auf einer langsamen Fahrt von Jena nach Weimar habe ihm Goethe den ganzen Roman „Die Wahlverwandtschaften“ erzählend vorgetragen, und zwar in einer Weise fliessend, als habe er ein gedrucktes Exemplar vor sich; und doch sei damals noch kein Wort davon niedergeschrieben gewesen.
Während des Diktierens kam es auch nicht selten vor, dass Goethe plötzlich stehen blieb, wie man etwa tut, wenn man eine Gruppe Menschen oder einen andern Gegenstand unvermutet vor sich sieht, welche die augenblickliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese schien er sofort künstlerisch zu gestalten und zu gruppieren. Mit ausgebreiteten Händen und unter Beugung des Körpers nach der einen oder andern Seite brachte er den Gegenstand ins Gleichgewicht und in kunstgerechte Stellung. War ihm das gelungen, so rief er gewöhnlich: „So recht! ganz recht!“Anfangs wurde es mir fast unheimlich bei dieser Unterhaltung mit der unsichtbaren Gesellschaft, seinen eigenen Kunstgebilden.

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